Die Kuh auf dem Mühlrad

Ereignisse im Umfeld der Mühlen - Teil II

Josef Kläser

(aus "Wäller Heimat" - Jahrbuch des Westerwaldkreises 1998 - hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Westerwaldkreises)

„Wieder einmal torkelte der Müller der Mühle zu. Es war ein Novemberabend, und tagelanger Regen hatte den Bach hoch anschwellen lassen. Als er ihn auf schmalem Steg überschreiten wollte, riss ihn ein Erlenzweig, der sich an seinem Rock verfing, in die Tiefe. Wohl ruderte und rang er mit Händen und Füßen, doch er vermochte das Ufer, so eng auch das Bett des Baches war, nicht zu erreichen. Die gurgelnden Wasser nahmen den Betrunkenen in ihre Arme und trugen ihn talwärts. Im nächsten Frühjahr

Illustration von Phillip Andre zu dem vorstehend zitierten Auszug aus: Es klappert die Mühle am rauschenden Bach, in: En Wäller Mill, eine Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Mühlen­kunde und Mühlenerhaltung. Landesverband Rhld.-Pf.

erst fand man seinen Leichnam an den vielverzweigten Wurzeln eines Weidenstumpfes."

Von Entwurzelten, Entmutigten, Verwirr­ten und Verzweifelten handelt manche Geschichte aus dem Umfeld von Mühlen. Sei es - wie hier in einer Erzählung von Otto Runkel1 - der Müller aus „einem stillen, verschwiegenen Westerwaldtal", der unfreiwillig in die Fluten des Mühlbaches eintaucht, oder wie in einem Schauspiel von Wilhelm Reuter2, das „Ammieche", das (freiwillig) aus dem Fenster gesprungen ist, sich „dud gefalle hot" und nun „em Millegroawe leiht".

Die Dichter entlockten die dramatischen Ereignisse ihrer Phantasie; die Wirklichkeit schuf sie - wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.

Vom nassen Tod

Obwohl die allermeisten Mühlen im Westerwald vom Wasser angetrieben wurden, also sich unmittelbar an einem Bach, Teich oder Mühlgraben befanden, erlagen nur verhältnismäßig wenig Menschen dem nassen Tod durch Ertrinken. Das mag daran gelegen haben, dass die mühlennahen Gewässer nur eine geringe Tiefe aufwiesen. Doch konnte die starke Strömung des in den Mühlgräben eingezwängten Wassers zu mancherlei Unfällen führen.

Wenn sich im Gewässerbereich der Mühlen Unglücke ereigneten, waren fast ausnahmslos Kinder, Verirrte und Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen davon betroffen.

In der Elzer Mühle lebte 1888 ein geistesgestörter Mann. Als er Ende Februar spurlos verschwunden war, erging eine Aufforderung an die Bewohner der umliegenden Ortschaften, nach ihm zu suchen. In Gruppen gingen vor allem junge Leute der Sache nach, durchstreiften Bachufer, Wald und Hecken. Es schien, als müssten alle Nachforschungen ohne Erfolg bleiben. Nach Tagen konnten schließlich zwei junge Bur­schen aus Dorndorf einen „Erfolg" melden.

Bei ihren Suchgängen entlang des Salzbaches kamen sie auch in die Nähe von Molsberg. Dort entdeckten sie am 29. Februar in einer Wasserlache bei der Struthmühle, (von der sich nur noch Mauerreste erhalten haben), im Eis die eingefrorene Leiche des seit Tagen Vermißten.3

Gleichfalls 1888 im Winter versetzte ein Unglücksfall im damaligen Oberwesterwaldkreis eine Müllerfamilie in Schrecken und Leid. Bei der Mühle des Dorfes S. war der Mühlgraben nur ungenügend abgedeckt. Das wurde dem einzigen Sohn der Mühlenbewohner J. im Dezember zum Verhängnis. Er stürzte nämlich so unglücklich in den Graben, dass er sich aus dem schnell fließenden Wasser nicht selbst retten konnte. Als die Eltern seine Hilfeschreie vernahmen und in die Richtung der Rufe eilten, hatte die Strömung den Körper des Kindes bereits über das Mühlrad geworfen. Durch den Sturz in den zum Teil mit Steinen ausgefüllten Untergraben kam der Junge zu Tode. Zusätzlich zu dem Unglück mussten sich die Eltern einem peinlichen Verhör unterziehen und vor Gericht wegen Fahrlässigkeit ver­antworten.4

Auch in drei weiteren Orten wurde der Mühlgraben spielenden Kindern zum Ver­hängnis. In (Montabaur-)Bladernheim trieb an einem Sonntag im August 1912 ein zweijähriger Junge eine Entenschar, die sich auf einer Wiese ausruhte, in den Wassergraben der zur Mühle führte. Dabei kam er der rasch fließenden Abzweigung vom Gelbach zu nahe und stürzte hinein. Das Verschwinden des Kindes wurde zunächst nicht bemerkt. Als die Eltern nach ihm riefen, aber keine Antwort erhielten, suchten sie das Gelände ab und fanden schließlich den leblosen kleinen Körper, der sich wohl an einem in den Mühlgraben hineinragenden Hindernis verfangen hatte. In diesem Falle führte keine Fahrlässigkeit, wohl aber vernachlässigte Aufsicht der Eltern zum Tode eines jungen Familienmitgliedes.5

Nur wenige Monate älter war der Sohn des Müllers Johann Klein von Marienhausen (Kreis Neuwied, bis 1970 Unterwesterwaldkreis). In einem unbeobachteten Augenblick hatte er sich am 31. August 1928 aus dem Gesichtskreis der mütterlichen Aufsicht entfernt und machte sich am Mühlgraben zu schaffen. Als seine Abwesenheit festgestellt wurde, setzten fieberhafte Nachforschungen nach seinem Verbleib ein. Die Eltern konnten das arme Geschöpf­chen nur noch tot aus dem zur Mühle führenden Wassergraben bergen.6

Wer glaubt, so etwas passiere in unserer Zeit nicht mehr, der sei an einen Unglücksfall erinnert, der sich 1957 an der Eisenburger Mühle bei Höhn zuzog. An einem Samstag Anfang Juli beschäftigte sich der 7jährige Sohn Manfred des Müllermeisters O. nach dem Abendessen mit seinem Handwägelchen im Mühlenhof. Als die Eltern nach einer kurzen Weile seine Abwesenheit feststellten, begab sich der Vater des Jungen sofort mit dem Motorrad auf die Suche nach seinem Kind. Vergebens forschte er bei Bekannten und Verwandten nach seinem Ver­bleib. Auf der Rückfahrt zur Mühle sah er neben der Brücke den Handwagen und eine Hand aus der Nister ragen. Sofort sprang der erregte Vater in den Bach, trug den Siebenjährigen ins Haus und verständigte den Arzt. Trotz intensiver, einstündiger Wiederbelebungsversuche gelang es dem Doktor nicht, den Jungen dem Tode zu entreißen.7

Mehrere Zeitungsberichte vermeldeten Unfälle erwachsener Personen mit tödlichem Ausgang bei Dunkelheit.

Dreizehn Jahre bevor die ehemalige kurtrierische Bannmühle zu Grenzau stillgelegt wurde, ereignete sich ein Unglücksfall, der die Müllerfamilie Eduard Oster in helle Aufregung versetzte. Am Abend des 3. Dezem­ber 1902 war das aus Sessenhausen stammende Dienstmädchen von der unterhalb Grenzau gelegenen Mühle in den Ort ge­gangen, um für seine Herrschaft Bier zu holen. Nach seiner Rückkehr äußerte es die Absicht, noch einmal ins Dorf gehen zu wollen, um sich einen Krug Wasser zu besorgen. Von diesem Vorhaben war es trotz der Warnung seiner Arbeitgeber nicht abzuhalten. - Vermutungen, der Gang habe ei­nem anderen Zweck als dem des Wasserholens gedient, sind reine Spekulation -.

Als die Magd nach geraumer Zeit noch nicht wieder zurückgekehrt war, begaben sich die Müllersleute auf die Suche. An einem Weidenstrauch fanden sie schließlich ein Umschlagtuch aus dem Besitz des Mädchens. Daraufhin wurden Bachgrund und Uferbereich mit langen Stangen nach dem Verbleib der jungen Frau abgesucht. Obwohl sich diese Nachforschungen bis zur Ortschaft Sayn ausdehnten, konnten zunächst keine weiteren Hinweise über das Verschwinden der Magd entdeckt werden. Erst einen Tag darauf fanden die Sucher die Leiche unterhalb der Mühle im Bach. Zum Unglückshergang wurde die Meinung geäußert, die Dienstmagd sei infolge der Dunkelheit in den Hochwasser führenden Brexbach gestürzt und ertrunken.8

Auch der Witwe Juliane S. aus (Bad Marienberg-)Langenbach muss am Abend des 29. November 1908 der den Ort durchziehende Mühlgraben zum Verhängnis gewor­den sein, indem sie auf dem Nachhauseweg von Bekannten die Orientierung verlor und in den offenen Wasserlauf fiel.9

Nicht die Dunkelheit, sondern vermutlich ein epileptischer Anfall verursachte an einem Abend Mitte Juni 1955 den Sturz des auf dem Roßberger Hof bei Montabaur beschäftigten 24 Jahre alten A. Sch. Nach den angestellten Recherchen überfiel ihn die Behinderung auf dem Weg in die Stadt am Mühlgraben neben der Sauertalstraße. Da man den jungen Mann am nächsten Morgen im Schlamm des einstigen Mühlenzulaufs erstickt auffand, nahm man an, er sei bei seinem Fall die Böschung der Straße hinabgeglitten10

Glück im Unglück hatte ein 15jähriges Mädchen am 20. Mai 1957 in Dies im Gelbachtal. Von einem Motorradfahrer angefahren, wurde es in den Mühlgraben geschleudert. Verletzungen und eine schwere Gehirnerschütterung waren die Folge. Doch konnte es nach einigen Tagen das Krankenhaus wieder verlassen, in das es zusammen mit seinem ebenfalls bei dem Unfall verletz­ten Vater eingeliefert worden war. Dem Motorradfahrer wurde das Geständnis entlockt, acht Glas Bier getrunken zu haben."

Wie kommen Kühe aufs Mühlrad?

Nur mit großer Mühe und unter Einsatz technischer Hilfsmittel war es in den beiden Fällen, von denen nun die Rede sein soll, im übertragenen Sinne möglich, „die Kuh vom Eis zu holen", nämlich vom Mühlrad.

Unmittelbar neben der Öl- und Getreide­mühle Albert Schneider in Gemünden befanden sich im September 1932 einige Kühe auf der Weide.12 Über dem Schacht der einige Jahre zuvor stillgelegten Mühle, in dem das Wasserrad hing, waren als Verschluss einige Baumstämme gelegt worden. Infolge eines Erdrutsches hatten sie sich etwas verschoben und ein Loch in der Abdeckung entstehen lassen. Eine der grasenden Kühe geriet in die Nähe dieser Öffnung, rutschte in den Schacht und blieb mit dem Kopf zwischen den Schaufeln des Mühlrades hängen. Weil Menschenkraft allein nicht ausreichte, die Kuh aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien, mussten zwei Flaschenzüge eingesetzt werden. Mit deren Hilfe gelang es trotzdem erst nach vier Stunden, das Rindvieh aus der Vertiefung herauszuziehen.

Zum Glück befand sich das Wasserrad nicht mehr in Betrieb, sonst wäre die Kuh vermutlich schrecklich nass und zu Tode geschleudert worden. So aber konnte sie - lediglich mit einigen Hautabschürfungen versehen - von ihrem unfreiwilligen Ausflug zu ihren Artgenossen auf die Weide zurückgeführt werden.

Ganz ähnlich verlief ein Zwischenfall, der sich im Herbst 1911 an der Stockumer Mühle zutrug. Nicht das ausbleibende Wasser des Enspeler Baches, nicht frevelnde Bubenhände, die den Zulauf zur Mühle unterbrachen, auch keine Veränderung an dem Kennel, der die strömende Energie dem Antrieb der Mühle zuführte, hatten das Mühlrad zum Stillstand gebracht. Eine Kuh bewirkte die Hemmung.13

Der Müller hatte seine Kühe auf die an die Mühle grenzende Wiese getrieben. Eines der Tiere näherte sich dem Eishaus, in dem sich unter einem Dach das Wasserrad zwischen einer Mauer und der Wand des Mühlengebäudes drehte. Dabei rutschte die Kuh auf dem feuchten Boden ab und geriet zwischen die Mauer und das Mühlrad. Die von dem Müller und seinen Helfern eingeleitete Befreiungsaktion misslang. Eingezwängt und frierend ließ die Kuh aus Verzweiflung ihr Muhen ertönen. Zu ihrem Glück! Denn dadurch wurden die Arbeiter im gegenüberliegenden Steinbruch aufmerksam gemacht. Der Aufseher eilte mit seinen Leuten herbei. Mehr als drei Dutzend Männern gelang schließlich unter Benutzung eines Flaschenzuges auch in diesem Falle, die Kuh unversehrt wieder nach oben zu befördern.

Auch in den Mühlen selbst lauerten Gefahren, zum Teil schreckliche. Doch davon mehr in der Fortsetzung.

Quellenangabe:

' Otto Runkel, Es klappert die Mühle am rauschenden Bach, in: Nassauischer Heimatkalender 1940, S. 44.

2   Wilhelm Reuter, Dat Ammieche von der Goldbachmüll, 3. Auflage, Niederlahnstein (Nassauischer Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege) 1930, S. 70.

3 Kreisblatt für den Unterwesterwaldkreis 19/ 1888

4  ebenda 104/1888

5   ebenda 132/1912

6 Westerwälder Volks-Zeitung 129/1928

7   Westerwälder Zeitung 129/1957

8   wie 3, 145/1902

9   wie 3, 184/1908

10  Westerwälder Post 166/1955

11 wie 7, 117/1957

12 wie 6, 222/1932

13 wie 3, 156/1911