O du mein Westerwald

(Verfasser unbekannt)

In der Dornburg bei Frickhofen lebte einmal - so wird erzählt - in einer prächtigen, glitzernden Eishöhle eine weise Frau, Woele genannt. Die hatte die Gabe, in die Zukunft zu schauen, und konnte den Leuten sagen, was ihnen noch widerfahren würde. Ihr könnt euch denken, wie die Leute von nah und fern herbeikamen, um zu erfahren, was sie Gutes oder Böses zu erwarten hätten.

Eines Tages saß die Woele auch in ihrer Halle und spann auf ihrem Rade Schicksalsfäden. Sie war ganz versunken in Sinnen und Denken und merkte kaum, dass ein Westerwälder Bauer zum Eingang der Höhle gekommen war und sich ganz bescheiden dort auf den Stein gesetzt hatte. Nach einer Weile erst wagte er, die feierliche Stille zu unterbrechen, und sagte: ,,Ich möchte wohl wissen, was Ihr denkt, liebe Woele." Sie sah ihn nur ein wenig von der Seite an und antwortete: ,,Ich denke an gewaltige, hohe und heilige Dinge."

,,Da schickt sich's wohl nicht dass ich Euch etwas frage, was mir sehr am Herzen liegt", sagte der Bauer.

,,Was wird dir am Herzen liegen da oben in deiner Einöde? Du wirst Sorgen haben, ob dein Vieh gesund bleibt, ob dein bisschen Hafer gerät oder ob dir der Schnee nicht das Hüttendach zusammendrückt oder ob deine Basaltklötze nicht einmal Lust verspüren, von selbst in die weite Welt zu wandern. Ich bin aber nicht gewöhnt, auf solche kleinlichen Sachen zu antworten. Ich rede lieber vom Anfang und Ende der Welt, von Göttern und Unholden, vom Schicksal der Völker und Könige." ,,Solche Fragen werden nicht leicht zu beantworten sein", meinte der Bauer. ,,Ich habe auch noch nicht gehört, dass jemand von hier fortgegangen ist, der mit dein Antwort vollständig zufrieden gewesen wäre."

Als die Woele das hörte, biss sie sich auf die Lippen und rückte näher zu dem Bauer hin. ,,So, das hast du gehört? Nun, dann frage doch einmal nach dem, was du wissen möchtest. Du wirst ja dann sehen, ob ich dir so antworten kann, dass du zufrieden bist."

Darauf sagte der Mann, ohne zu zögern, er wollte sich bei ihr erkundigen, wie es in Zukunft mit seinem Westerwald gehen werde. Nichts sei ihm auf der weiten Welt so lieb wie dieses Stück Land. ,,Wenn du sonst nichts wissen willst, dann kann ich dich wohl zufrieden stellen. Ich sage dir: Der Westerwald wird allezeit etwas haben, wovon man in der Welt sprechen wird und was ihn ganz besonders auszeichnet."

,,Ja, das ist eine gute Antwort. Ich wäre auch ganz befriedigt, wenn ich wüsste, wie das zugehen soll." ,,Nun, weißt du nicht, dass der Westerwald jetzt schon bekannt ist, weil er im stillen Nistergrund ein Kloster besitzt, berühmt seit sechshundert Jahren und beliebt bei allen Leuten in der ganzen Umgegend? Und die rührigen Mönche mit den grauen Kutten wirken noch heute immerfort."

,,Das ist gewiss wahr. Aber ich bin ein alter Mann", sagte der Bauer, ,,und weiß, dass alles Irdische vergänglich ist. Es könnte doch sein, dass auch der Glanz dieses Klosters einmal verblasst. Sind doch in Gemünden und Seligenstadt bei Westerburg auch Kloester eingegangen, ganz zu schweigen von Arnstein, Bleidenstatt, Beselich, Brunnenburg, Schönau, Eberbach und andere im übrigen Nassau." ,,Das ist ja möglich", sagte darauf die Woele. ,,Aber dann wird immer noch am Fuß deines Westerwaldes ein gewaltiger Dom stehen. Er wird auf seinem Felsen stehen und sich so stolz in der Flut spiegeln, dass niemand ohne Bewunderung vorbeiziehen wird."

,,Ja, das ist wohl wahr", sagte der Bauer. ,,Aber ich bin ein alter Mann und weiß, dass auch ein stolzes Bauwerk durch Krieg oder Feuer oder Erdbeben zerstört werden kann. Was wird dann meinem Lande Ansehen verschaffen, wenn einmal ein solches Unglück geschehen sollte?" Die Woele wusste sofort eine Antwort: ,,Hast du vielleicht vergessen, dass rund um deine kahle Höhe ein herrlicher Kranz von Schlössern, alten Herrenhäusern und Burgen liegt? Ich zähle an den Fingern: Friedewald, Hachenburg, Westerburg, Montabaur, Hadamar, Weilburg, Greifenstein, Herborn, Dillenburg. Von ihren Zinnen und Türmen wird man allezeit mit Freuden auf deinen Westerwald blicken und ihn wegen seiner malerischen Schönheit preisen."

,,Das ist ganz gewisslich wieder wahr", sagte der Mann. ,,Aber ich bin ein alter Mann und weiß, dass die Zeiten sich wandeln. Was wird den Blick der Menschen auf meine Heimatlandschaft lenken, wenn einmal dies alles in Verfall gerät?" ,,Du bist nicht leicht zufrieden zu stellen", antwortete die Woele. ,,Aber sei getrost. Länger als Bauwerke von Stein besteht der Ruhm großer Männer. In aller Welt, höre ich, erzählt man von Wilhelm von Oranien und preist einen Westerwälder Reitersmann, der sich vor Kaiser und Reich ausgezeichnet hat. Peter Melander von Holzappel nennt er sich, und ein Sprüchlein von ihm lautet: Wer dem Kaiser das Szepter will entreißen, muss erst in den sauren Apfel beißen. Das wird doch gewiss deinem Westerwald zur Ehre gereichen."

,,Dies zu hören, freut mich von ganzem Herzen", sprach der Bauer. ,,Aber ich..." ,,Ja, ja, ich weiß schon", fiel ihm die Woele ins Wort, ,,du bist ein alter Mann und glaubst nicht an den Ruhm, der ewig dauert. Nun, da darfst du ganz ruhig sein. Es gibt dann immer noch etwas, was man an deinem Westerwald loben wird." Dabei besann sie sich schnell ein bisschen und sagte dann: ,,Ich schaue weit und sehe, wie dort im Unterwesterwald im Kannenbäckerland Tonwerke aufblühen, die ihre Töpfe, Kannen, Pokale, Krüge, Vasen, Becher, ihr Steingut, ihr reich verziertes Prunkgeschirr in aller Welt teuer verkaufen und den Ruhm deiner Heimat über den Erdball tragen. Genügt dir das auch noch nicht?"

Der Bauer verbarg nicht, wie sehr ihn dies freute. ,,Das ist gewiss etwas Grosses und Ehrenvolles für meine Heimat. Aber können sich nicht auch die reichsten Tonlager einmal erschöpfen? Wird es dann noch etwas geben, wovon die Leute reden, wenn sie den Namen Westerwald hören?" ,,Sei nicht ängstlich deshalb", war die Antwort. ,,Es wird die Zeit kommen, wo auch da oben bei dir wieder wie einst die Eichenwälder rauschen und man wirklich wieder von einem Westerwald reden kann."

,,Dies zu hören, tut meinem Herzen wohl", sagte der Bauer. ,,Aber ich bin ein alter Mann und habe von meinen Vorfahren erzählen hören, wie schnell durch Unvernunft auch die schönste Waldlandschaft zerstört werden kann. Wie wird's sein, wenn auch dies vergangen ist?" ,,Du bist aber wahrhaft schwer zufrieden zu stellen", sagte jetzt die Woele, und zwei rote Flecken zeigten sich auf ihren Wangen. Sie begann nämlich ungeduldig zu werden. ,,Du darfst auch darüber noch beruhigt sein. Du kennst doch die hunderttausend Basaltblöcke, die deinen Westerwald zieren wie die Knorren einen alten Eichstamm. Glaub mir, die wird niemand vergessen zu erwähnen, wenn er draußen in der Welt von deiner Heimat erzählt. Und das wird noch geschehen, wenn du und deine Enkel und Ururenkel längst im Grabe liegen." ,,Dieser Ruhm wird meinem Westerwald lange bleiben", sagte der Bauer, ,,dessen bin ich gewiss. Aber ich habe auch gesehen, welch ungeheure Massen der härtesten Basalte die unheimlichen Sprengmittel der Menschen schon weggefressen haben, so viel, dass mir schon Angst geworden ist, sie möchten manchen schönen Berg ganz und gar abtragen. Es ist also gar nicht so ganz sicher, dass diese berühmten Basaltköpfe ewig droben auf der Heide liegen werden. Wenn aber auch sie einmal weggeräumt sind, was wird es dann noch geben, womit sich der Westerwald vor allen andern Ländern auszeichnen wird?"

Jetzt war die Geduld der Woele aber wirklich zu Ende. Voll Zorn rief sie: ,,Sei ganz unbesorgt darüber. Du sagst zwar, alles wäre vergänglich. So will ich dir jetzt etwas nennen, was sich ganz gewiss immer und ewig gleich bleiben wird. Das ist, dass es auf dem Westerwald bis zum jüngsten Tag solche zähen, hartnäckigen und eigensinnigen Bauern geben wird, wie du einer bist."

Kaum hatte die Woele das gesagt, da stand der Bauer fröhlich auf, bedankte sich für die gute Auskunft und meinte, jetzt endlich sei er wirklich ganz befriedigt. Darüber nun musste sich die Frau verwundern; denn sie hatte ihm durchaus nichts Angenehmes sagen wollen.

,,Das verstehe ich nicht", sagte sie. Der einfache Mann in seinem Leinenkittel antwortete ihr freundlich: ,,Seht, ich denke so. Alles, was Könige und Fürsten und Klosterleute und sonst Menschen einrichten und bauen, das hat nur wenige Jahre Bestand. Wenn Ihr mir aber sagt, dass es in meinem Land immer starke, trotzige und beharrliche Bauern geben wird, dann weiß ich auch, dass es seinen Ruhm behalten wird. Denn nur sie werden diesen Boden wirklich lieben und in Ehren halten. Dies aber ist mein höchster Wunsch für den Westerwald."

Damit setzte der Bauer seine Kappe auf und stieg ruhig und getrost wieder hinauf auf seine Höhe. Dann richtete er sich auf, schaute um sich in das sonnenglänzende Land und auf die frischen Schollen, hob die Kappe und rief leuchtenden Auges:

,,Oh, du meine Westerwälder Heimat!"


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