Joachim Weger

Das Grubenunglück von Bindweide 1872

(veröffentlicht im Heimatbuch des Kreisheimatvereins Altenkirchen 1991 - hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Heimatvereins)

"Eines Grubenunglückes, welches hinsichtlich seines Umfanges und seiner traurigen Folgen in der Geschichte des hiesigen Bergbaus vereinzelt dasteht, soll nicht vergessen werden..."

Mit diesen Worten leitet die Chronik der katholischen Volksschule Gebhardshain die Schilderung eines Ereignisses ein, welches das Jahr 1872 in der Unfallstatistik des Bergbaues im gesamten Staatsgebiet zu einem "abnormen" Jahr werden lassen sollte. Der 6. März 1872 war für die Belegschaft der Eisenerzgrube Bindweide bei Steinebach im Gebhardshainer Land ein überaus schwarzer Tag.

Der Gebhardshainer Pfarrer Michael Kröll vermerkte in seiner 1882 erschienenen Schrift: "Die Grube Bindweide oder Herkules bei Steinebach, hiesiger Pfarrei, beschäftigt gegen 500 Arbeiter, welche zum größten Teil hiesiger Pfarrei angehören.

Nachdem mittags gegen 1.00 Uhr die gesamte Belegschaft an die Arbeit gegangen war, brachen plötzlich die Seitenwände, welche die gegenwärtigen Stollen und Anlagen von den älteren (etwa vor 70 Jahren angelegt) schieden, durch die Gewalt der angesammelten Gewässer ein und erfüllten fast alle Räume mit Schutt, Schlamm und Steinen."

Das alte "Siegener Kreisblatt" schrieb dazu: "Ein Teil der großen Belegschaft war am Vormittag des genannten Tages mit Heranholen des sogenannten Alten Mannes (Berg- und Gesteinsüberreste vom früheren Betriebe) beschäftigt..."

Zur näheren Örtlichkeit der Unfallstelle gibt die Gebhardshainer Schulchronik einen Hinweis: Meit Beginn des März 1872 stand der Abbau auf dem II. Bindweider Hauptmittel etwa 14 Meter über der Stollensohle. Der Abbau hatte eine Länge von 24 Metern und je nach der Mächtigkeit des Ganges zwei bis vier Meter Breite. In einer Pinge über dem Abbau hatten sich mächtige Wassermassen angesammelt. Am 6. März 1872 hatten 13 Bergleute in dem Abbau gearbeitet. Von ihnen wurde ein mächtiger Quarzblock gesprengt. Noch war der Schuß nicht verfüllt, als sich aus der Pinge über dem Abbau das Wasser in denselben ergoß und den Abbauraum in kurzer Zeit füllte."

Das Schrifttum jener Zeit berichtet übereinstimmend von tagelangen starken Regenfällen vor dem Unglückstag, die den Wasserstau in der Pinge mitverursachten.

Lettige Tonschiefer verhinderten zudem den Wasserabfluß. Dieserart Schürflöcher oder Pingen waren die Vorläufer der Stoll enanlagen. Mit primitiven Mitteln wurde darin schon vor Jahrhunderten nach Erzen gegraben, freilich nur so tief, wie es der Wasserzufluß erlaubte. Der Gebhardshainer Lehrer Dr. Cobnen hielt 1938 in einer Festschrift fest: "An einzelnen Stellen erreicht der alte Betrieb eine Tiefe von 30 Metern."

Bereits der bekannte Naturforscher Georg Acricola erwähnte 1556 in seinem Werk über das Berg- und Hüttenwesen: "Durch Schürfe legt man die Gänge bloß, die zuweilen unmittelbar unter dem Rasen reich an Erzen sind."

Heute wissen wir, daß jene "Unfall-Pinge" von Bindweide im Grenzbereich der Gemeinden Kotzenroth, heute Rosenheim, und Steineberg, heute Malberg, lag, unmittelbar an der jetzigen Kreisstraße 119, bei km 0,4.

Bedingt durch die ständige Erweiterung des untertägigen Betriebes kam es schließlich dazu, daß die alte Pinge ca. 40 Meter unter Rasenkante in Richtung Rosenheim "unterfahren" wurde.

"Die Grube Bindweide hatte eine große Ausdehnung", schrieb die Steinebacher Schulchronik, "ihre Gangvorkommen reichen bis Kotzenroth, auch auf Dickendorf zu, Steineberg, bis halben Weg nach Elkenroth, jedoch nicht bis Steinebach." Zum geschichtlichen Beginn des Stollenbaues auf Bindweide führt diese Chronik aus: "Maniur aus Dillenburg löste die Grube Herkules durch einen im Bruchwald bei Steinebach angesetzten Stollen um 1835, der 84 Lachter lang war.

Um die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts finden wir die Kirchener Gewerkschaft Stein als Grubenbesitzer. Sie mutete die Gruben Herkules, Aurora, Caroline und Königszug und ließ die verfallenen Stollen von Herkules und Könisgzug wieder aufwältigen und verlängern."

Und genau von diesem verlängerten Herkules-Stollen aus erfolgte die gefährliche Verbindung zur beschriebenen "Unfall-Pinge", eine Verbindung, die sich zu einer tödlichen Begegnung entwickeln sollte.

Der Bindweider Obersteiger Gustav Diehl vermerkte 1925 in einem Zeitungsaufsatz zum Arbeitsvorgehen der Kirchener Gewerkschaft Stein nach 1849: "Von dem Herkules-Stollen aus erfolgte dann die Aufschließung der Gänge, u.a. Bindweide-Hauptgang." Daraus wird deutlich, daß von der Herkules-Sohle aus begonnen wurde, den Abau unter der "Unfall-Pinge" zu erschließen, eben in dem Bindweider Hauptmittel II.

Nach dem Einbrechen des eiskalten Pingenwassers mit ungeh eurem Druck blieb den Bergleuten in dem Abbau nur der Weg nach unten zur Stollensohle, um so dem Tod zu entrinnen. Aber dieser Wettlauf sollte verlorengehen, wie die zeitgenössischen Chronisten belegen: "Schleunigst suchten sich die Arbeiter durch die sogenannten Fahrrollen, welche zur Bodensohle des ganzen Werkes führten, zu retten. Fünf wurden sofort verschüttete und zwei brachte man ertrunken ans Tageslicht", berichtet die Molzhainer Schulchronik.

Peter Mockenhaupt und Wilhelm Weller wurden am 9. März 1872 beerdigt. Ein solch gewaltiges Unglück war auf Bindweide von erschütternder Einmaligkeit. Wohl darum überschlugen sich die Meldungen und Ereignisse der Folgezeit, es kam zu unterschiedlichen Berichterstattungen.

Bei der Suche nach den Verschütteten verging der Unfalltag, der 6. März, und der 7. März sollte neue Trauer bringen. Unter Leitung des Bergrates Johannes Schmidt aus Betzdorf, in Begleitung des Grubensteigers Utsch und des Angestellten Stein, wurde die Suche nach den Verschütteten fortgesetzt. Während die Fahrrollen von unten geöffnet wurden, kam erneut der Tod, wie Pfarrer Kröll es hinterließ: "Man hegte nämlich die Hoffnung, auf diese Weise die verschütteten Arbeiter wieder frei zu machen. Sobald aber die Ausgänge geöffnet waren, stürzte das wilde, eiskalte Bergwasser mit solcher Heftigkeit in die Talsohle nieder, daß von dem nachfolgenden Schlamm und Gestein sofort noch sechs Personen erschlagen wurden."

Das Vorhaben, die Bergleute von der Stollensohle des Betriebes aus zu erreichen, gab man daraufhin sofort auf, wie Pfarrer Kröll weiter erzählte: "Vom Tageslichte, in der Höhe des Berges, grub man einen Abzugskanal, um die gestauten Gewässer zu entfernen."

Doch bei aller harten Verzweiflungsarbeit, Hinweise auf lebend Geborgene enthält das Schrifttum der damaligen Zeit nicht. Die meisten der Verunglückten konnte man erst nach mehrmonatigem Suchen bergen. Beeindruckende Worte findet die Molzhainer Schulchronik dazu: "Erst nach sechsmonatiger Arbeit fand man die Verschütteten und auch die, welche dieselben hatten retten wollen. Die Leichen waren in dem Schlamm nicht verwest und wurden unter lautem Wehklagen der Angehörigen und herzlicher Teilnahme der Pfarrgenossen zur ewigen Ruhe bestattet."

"Die letzte Leiche wurde am 31. August 1872 erst geborgen", so die Aufzeichnung der Schulchronik Gebhardshain.

Zu den damaligen widersprüchlichen Angaben gehörte besonders die Berichterstattung über die Anzahl der Toten. Die Aufzeichnungen bewegen sich zwischen zehn und vierzehn getöteten Bergleuten. Wenn Pfarrer Kröll auch klar und schlüssig von 13 Toten berichtet, so erweist sich selbst heute noch eine genaue Äufklärung als äußerst schwierig. Ohne die Erhebung des Anspruchs auf Vollständigkeit sind nach heutigen Erkenntnissen folgende Personen am 6./7. März 1872 verunglückt:

Johannes Schmidt, Betzdorf, Bergmeister und Revierbeamter,

Friedrich Wilhelm Utsch, Grubensteiger,

Gottfried Stein, Betzdorf, Angestellter (Revierdiätar),

Peter Josef Held, Mörlen,

Peter Mockenhaupt, Eiben,

Wilhelm Weller, Steinebach,

Christian Löhmann, Eiben,

August Schuhen, Kotzenroth,

Wilhelm Greb, Nauroth,

Heinrich Weller, Steineberg,

August Büdenhölzer, Gebhardshain.

Ein zusätzlicher, ungesicherter Personenhinweis ergibt sich aus einem Brief von"Deichmann & Cp. zu Coeln" vom 1. 5. 1874 an Herrn Theodor Stein zu Kirchen, "Ihrer uns mündlich erteilten Weisung gemäß haben wir folgende Vergütungen bewirkt..." Neben der Frau Bergmeister Schmidt zu Betzdor" erscheinen die Namen Paul und Erich Capito zu Daaden sowie Brack zu Daaden. Ob es sich dabei um weitere Angehörige von Verunglückten handelt, ist allerdings äußerst ungewiß (Original im Bergbaumuseum des Kreises Altenkirchen in Sassenroth).

Schon wenige Tage nach dem Unglück war dem Kirchener Gewerken Stein der Grubenbetrieb derart "verleidet" (der Bergmeister Schmidt war sein Neffe und Berater), daß er auf dem Höhepunkt seines Schaffens den Großteil seines Grubenbetriebes verkaufte. Krupp aus Essen erwarb die Grube Bindweide für 2,5 Millionen Taler und fühne sie bis zur Betriebsschließung 1932.

Daß in den Familien der verunglückten Bergleute bittere Not herrschte, vermag das Schreiben eines betroffenen Angehörigen zu vermitteln:

"Herrn Schichtmeister Stein! Ihr Wohlgeboren werden mir entschuldigen, daß ich so frei bin und Ihnen durch einige Zeilen den schweren Kummer meines Herzens mitzuteilen um dadurch mir in etwa Trost zu verschaffen. Wie Ihnen bekannt ist, so ist ebenfalls mein Sohn vor cirka 8 Wochen ein Opfer der Grube Bindweide geworden, und durch diesen schweren Unglücksfall ist mir meine einzige Stütze, worauf meine ganze zeitliche Hoffnung gerichtet war, von der Seite gegangen.

Allein die Himmelsfügung hat es so gewollt und diese ist nun geschehen. Aber der schwere Verlust meines Sohnes hat mich in die Lage versetzt, die ich nicht zu schildern vermag.

Denn durch allerlei unglückliche Ereignisse und durch die monatige Haushaltung zu erreichen, war ich in schwere Schulden geraten. Aber durch den Verdienst meines Sohnes, welcher der älteste war und schon sechs Jahre seinen Verdienst mir überbrachte, wäre es mir gelungen, doch endlich leben zu können und auch noch die dringendsten Gläubiger zu befriedigen.

Aber nun weiß ich nicht mehr, wie dieses geschehen soll. Ich bin alt und habe zehn Jahre auf derselben Grube gearbeitet und Schaden an ein Knie bekommen. Da ich nicht mehr im Stande bin, die schwere Arbeitzu verrichten, habe ich also bis jetzt noch nicht genug in einigem Ackerbau. Auch habe ich einige der hartherzigen Gläubiger, die mich an dem zukünftigen Mittwoch auf dem Verkaufe haben und ich weiß eicht, wie ich die bezahlen soll.

Früher konnte ich den Verdienst meines Sohnes nehmen und Vorschuß holen, dann war die Not gelindert. Aber dieses alles hat aufgehört. Nun fehlen uns auch die Lebensgewohnheiten, und ich habe noch eine Familie von sechs Menschen. Was ich nun anfangen soll weiß ich nicht, Gott wolle helfen. Mit aller Achtung zeichnet Ihr untertäniger..." (Brief in Privatbesitz)

Der Bittbrief, der die soziale Notlage nach dem Unglück von 1872 beschreibt, sollte nicht ungehört bleiben. Die Angehörigen der verunglückten Bergleute wurden großzügig entschädigt. Außer den Vergütungen an die Hinterbliebenen stellte die Gewerkschaft Stein einen stattlichen Betrag zur Verfügung, der im Aufbau des "Heller-Knappschafts-Vereins", mit seinem Sitz in Herdorf, Verwendung fand. Und dennoch, finanzielle Hilfen konnten kaum eine Tragödie wie die vom 6./7. März 1872 abschließen, sie stellten allenfalls einen kleinen Trost dar für den Verlust des Sohnes oder des Ehemannes, des Vaters oder des Bruders.

Ohne Wertung soll letztlich der Inhalt einer Sage aufgeführt werden, die zum Teil die Steinebacher Schulchronik und auch der Volksmund überliefert haben: "Die Bewohner waren durch großen Geldverdienst in früher Zeit in Üppigkeit geraten, wurden lasterhaft und ausschweifend.

Ein Vöglein habe mahnend und warnend gerufen bindweid, bindweid, als ab es den kommenden schlimmen Zeiten eingedenk habe sagen wollen, die Bewohner müßten einst durch Binden der Weiden (Besenbinden) ihr Geld verdienen."

Als alle Mahnungen des Sagen-Vögleins fehlgeschlagen seien, habe es sich erneut zu Wort gemeldet: "Bindweid, Bindweid, tu dich zu, dann bleibt kein Hirt bei seiner Kuh!"

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