Die Geschichte von der Auswanderung meiner Vorfahren aus der Kurpfalz

 

Diese Geschichte schrieb ich schon ziemlich am Anfang meiner Ahnen – und Familienforschung und hielt sie als Vortrag in der VHS in Krefeld am Mittwoch, den 11.05.1994, bei dem sogar eine ganze Reihe von Bönninghardtern zugegen waren. Ich fand diesen Vortrag zufällig wieder, sogar handgeschrieben. Inzwischen kann ich gut mit dem PC umgehen und will die Geschichte noch einmal zu Papier bringen, damit sie nicht verloren geht und ich sie auf meinem PC speichern kann.

 

Krefeld, den 11.05.1994

 

Ich behaupte, Familienforschung ist spannender als jeder Kriminalroman. Wenn man einmal damit anfängt, erliegt man der Sache total. Jedenfalls mir erging, besser gesagt: ergeht es so. Man gerät zwar des öfteren in eine Sackgasse, wenn man aber wieder hinaus findet, ergeben sich ganz neue Ausblicke. Natürlich spielt auch der Zufall oft eine sehr große Rolle. Außerdem besteht die Gefahr, daß man sich sehr schnell „verzettelt“. Man muß so seine eigene Methode finden, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes in einer „Zettelwirtschaft“ zu ertrinken.

 

Zuerst möchte ich einige Vorbemerkungen machen:

Kein Mensch kann sich seine Vorfahren aussuchen, so wie ich mir z.B. aus vielen Sorten von Äpfeln die für mich Leckerste aussuchen kann. Jeder muß sich mit den Generationen, die vor ihm waren, zufrieden geben und, wenn er will, damit auseinander setzen.

Das habe ich, wie so viele aus unserer Generation, vor vielen Jahren mehr oder weniger zwangsweise gemacht. Ich mußte auch, um die Lehrerbildungsanstalt während des letzten Krieges besuchen zu können, meinen sgn. „arischen Nachweis“ erbringen. Das Interesse war damals zwar schon geweckt, aber die Zeit zum Forschen fehlte leider. Mir tut es heute immer wieder leid, daß ich meine Eltern, als sie noch lebten, viel zu wenig befragt habe. Aber so ergeht es ja wohl vielen von uns. Als ich dann nach meiner Pensionierung im Jahre 1988 das Thema „Ahnenforschung“ mal schnell erledigen wollte, ahnte ich nicht, was auf mich zukam.

In der Zeitung las ich, daß interessierte Leute bei den Zusammenkünften des Vereins für Familienkunde in der VHS herzlich eingeladen seien. Na, dachte ich, das kannst du dir ja mal anhören – nicht ahnend, was man in diesem Verein so macht. Ich dachte, vielleicht kann dir jemand bei deiner Ahnenforschung helfen. Weit gefehlt !!! Bei meinem ersten Besuch referierte Herr Dr. Jacobs über verschiedene Computertypen, die man einsetzen kann und die eine große Hilfe seien. Ich dachte schon, ich sei im falschen Raum und nicht bei den Familienforschern. Wie es aber vor etwa 3½ – 4 Jahren nun begann, was ich da schnell mal erledigen wollte, möchte ich nur ganz kurz erzählen.

Mein Name ist Hannelore Neffgen geborene Tiefers. Geboren bin ich am 19.05.1926 in Krefeld, also ein Kind des Niederrheins. Mein Vater, sowie meine Großeltern und Urgroßeltern väterlicherseits stammten aus Bockum bei Krefeld, sodaß es ein Leichtes war, ihre Vergangenheit und ihr Umfeld zu erforschen. Dagegen kam meine Mutter und ihre mütterlichen Vorfahren aus Schermbeck bei Wesel, während der Vater meiner Mutter und dessen Vorfahren aus dem Westerwald stammten. So hatte ich also am Anfang drei größere Gebiete zu erforschen: 1. die Gegend um Krefeld in Standesämtern, Kirchenämtern und im Stadtarchiv; 2. den Ort Schermbeck, der mir eigentlich nur aus den Erzählungen meiner Mutter bekannt war, und 3. den Ort Frickhofen und Umgebung im Westerwald, wo ich im Bistumsarchiv von Limburg suchen mußte.

Mit 15 Jahren hatte ich schon einen Ahnenpaß angelegt, der aber nur bis zu den Großeltern reichte und den ich in den Kriegswirren wieder verlor. Eingedenk dieser ersten Versuche ins Reich der Ahnen führten mich meine Schritte ins Pfarramt in Bockum. Dort wurde ich natürlich fündig und ließ mir anschließend mit den Daten bewaffnet die entsprechenden Urkunden im StA Bockum ausstellen. So grub ich zehn Geschwister meines Urgroßvater aus, von denen neun, mit meinem Urgroßvater natürlich zehn, Jungen waren. Die einzige Schwester wurde nur sechs Tage alt.

So war es eigentlich relativ einfach, den Weg dieser Brüder meines Urgroßvaters bis in die heutige Generation zu verfolgen. Dabei stellte ich fest, daß alle Familien im Raum Krefeld, die „Tiefers“ heißen, von meinem Urgroßvater und seinen Brüdern abstammen. Ich habe sie fast alle verfolgt, ausfindig gemacht und mit ihnen Kontakt aufgenommen. Es war natürlich eine zeitraubende Wahnsinnsarbeit, weiß ich natürlich heute – viel zu breit angelegt. Nun – von dieser Geschichte will ich später einmal berichten – sie ist nicht uninteressant.

Ich bin vor einem ¾ Jahr auf eine ganz andere Linie gestoßen, die mich fasziniert und vollkommen mit meiner Suche nach „Ahnen“ ausgefüllt hat.

Meine Tiefers-Großmutter war eine geborene Michels, deren Vater wiederum aus Venray in Holland stammte. Ihre Mutter, also meine Urgroßmutter, hieß vor ihrer Ehe Giesen und wurde in Bönninghardt bei Alpen, nördlich von Moers gelegen, geboren. Von beiden Familien, den Michels und den Giesen, habe ich eine Menge an Einzelheiten gesammelt, über die ich jeweils einen Vortrag halten könnte. Aber ich möchte noch eine Generation zurück gehen und von der Familie und Vorfahren der Mutter meiner Urgroßmutter, eine geborene „Barth“ berichten. So komme ich auf das eigentliche Thema meines heutigen Vortrags.

Schon lange suchte ich im Raum Alpen / Sonsbeck, genauer gesagt in Bönninghardt nach den Vorfahren Barth / Giesen und hatte auch schon einige Erfolgserlebnisse. In Abständen von ca vier  Wochen fahre ich mit einigen Herren unseres Vereins ins Personenstandsarchiv nach Brühl, und man erzählt ja unterwegs auch über das gemeinsame Hobby, so daß den jeweils anderen z.T. die Namen und Räume, in denen man sucht, bekannt sind. Herr Cleve sucht z.B. im gleichen Raum und so kam es, daß er vor gar nicht langer Zeit, als wir wieder mal in Brühl waren, in einem Sterberegister aus Alpen den Namen „Barth“ fand, 1822 in Bönninghardt gestorben. In der Urkunde, die ich dann ja schnell bekam, stand, daß besagter Witwer Christoph Barth vor 84 Jahren in Steinbach bei Altsimmern geboren sei und daß seine Eltern die zu Pfalzdorf verstorbenen Ackersleute Peter und Maria Barth waren.

Simmern im Hunsrück war mir ja vom Namen her bekannt, aber Pfalzdorf vermutete ich eigentlich in der Pfalz. Schnell war ich eines besseren belehrt, als ich in den Autoatlas schaute; Pfalzdorf lag bei Goch !!! Nun kam noch ein zweiter Zufall hinzu, denn dadurch, daß ich für einen Forscher aus Kaltenkirchen bei Hamburg in unserem Raum nach „Münker“ suchte, rief mich eines Tages ein Vetter von ihm an, der sich nach den Ergebnissen meiner Forschung für diese Familie Münker erkundigen wollte. Dieser Mann rief aus Alpen an. Ich hörte nur Alpen und fragte ihn, ob es in Alpen nicht auch so etwas wie einen Heimat - oder Familienforscherverein gäbe. Er schickte mir postwendend einen Zeitungsartikel, in dem stand, daß in Bönnghardt kurz darauf ein Fest stattfinden sollte, wobei sich eine „Interessengemeinschaft für Bönninghardter bilden wollte. Sie gaben auch schon ein Heftchen heraus, daß sich „Geschichte und Geschichten von der Bönninghardt nennt. Zum Fest fuhr ich natürlich hin und machte mich mit den Initiatoren bekannt. Seitdem unterstützen wir uns ein wenig gegenseitig mit Fakten, die wir auf irgendwelchen Wegen herausfinden. (Das ist leider nach kurzer Zeit wieder eingeschlafen) Zu dem zweiten Zufall kam hinzu, daß der besagte Vetter von Herrn Münker, der ehemalige Tierarzt Münker aus Alpen, diesem von meiner Suche in Bönninghardt und auch von eventuellen Forschungen in Pfalzdorf berichtete. Dieser hatte, man soll es nicht glauben, Kontakt mit Forschern, die über die Gründer von Pfalzdorf forschten. U.a. schickte er mir auch allerhand an Literatur über die Bürger und Einwohner von Simmern und der umliegenden Orte, bis zum Jahre 1800. Eine Kontaktadresse brachte mich mit Riesenschritten ins Land einer Linie meiner Vorfahren, nämlich der Barth, zurück. Von Herrn Werner Weber, Oberstudienrat aus Solingen, erfuhr ich, daß im 18. Jahrhundert viele Pfälzer auswanderten, wozu auch meine Vorfahren gehörten, u.a. an den Niederrhein. Über diese Auswanderer wurde und wird noch so viel geforscht, sodaß ich von entsprechender Literatur , die mir Herr Weber angab, nur abschreiben mußte. Ich erfuhr auch, daß es in Pfalzdorf einen Forscher namens Jakob Immig gibt, den ich postwendend aufsuchte. Er ist leider schon über 80 Jahre alt und erforschte schon seit mehr als 60 Jahren die ersten Bewohner der sgn. „Gocher Heide“, wo später Pfalzdorf gegründet wurde. Auch hier in Pfalzdorf feierte man ein Fest mit großem Programm, denn vor genau 250 Jahren kamen die ersten Auswanderer hier in der Gocher Heide an, im Jahre 1741.

 

Wie kam es dazu?

 

Die Geschichte der Pfälzer begann mit einer mißglückten Auswanderung nach Pennsylvanien in Amerika.. Die im Jahre 1741 erfolgte Niederlassung auf der Gocher Heide erfolgte mehr oder weniger unfreiwillig. Man hatte sein durch Kriege, wirtschaftliche Nöte und Glaubensfragen zerrüttetes Vaterland, die Pfalz, mit dem Vorsatz verlassen, sich nach Amerika zu begeben. Bei der Suche nach den Gründen für diesen Schritt kann man sich kurz fassen. Von der in älterer Zeit vorherrschenden Meinung, daß religiöse Gründe allein oder wenigstens vorwiegend maßgebend waren, ist man inzwischen abgerückt und redet nun mehr wirtschaftlichen Gründen das Wort.

Die Reise in die „Neue Welt“ erfolgte im ersten Abschnitt auf Rheinschiffen von Bacharach aus, mit denen man bis Rotterdam fuhr. Dort stieg man auf Seeschiffe um, um so die Küste von Amerika zu erreichen. Als jedoch kriegerische Verwicklungen einen Seekrieg zwischen England und Spanien hervorriefen, die den zügigen Abtransport der Auswanderer durch englische Schiffe von Rotterdam aus in Frage stellte, häuften sich in Rotterdam die Auswanderermassen. Um diesem Auswandererelend im eigenen Lande zu begegnen, sperrten die Niederländer ihre Grenze gegen Preußen. Nur solche, welche nachweisen konnten, daß sie in Rotterdam sofort auf Seeschiffe umsteigen und den „Gefahrenzuschlag“ der englischen Transportkapitäne bezahlen konnten, durften passieren. Sie verlangten den völlig überhöhten Transportpreis von 7 „Pistolen“ = 35 Reichstaler pro Person. So endete für 20 Pfälzer Familien an der Teilung des Rheins in Waal und Rhein bei der ehemals niederländischen Festung Schenkenschanz die Reise nach Amerika. Nach fast drei Monaten beschwerlicher und kostspieliger Rheinfahrt konnten nämlich viele Familien eine so hohe Summe nicht mehr aufbringen. Zahlreiche Auswanderer besaßen Ende Juli 1741 aber gerade noch so viel an Bargeld, daß sie die weiteren drei Monate währende Fahrt über den Atlantik  zwar lebend überstehen konnten. Danach mußten sie jedoch in Kauf nehmen, daß amerikanische Farnmer die Jungen und Kräftigen unter ihnen durch Übernahme der Transportkosten loskauften, um dann für Jahre als „weiße Sklaven“ und billige Arbeitskräfte schamlos auszubeuten.

Die 20 Pfälzer Familien, die die Weiterfahrt nicht bezahlen konnten, wurden von den Rheinschiffern am 27.06.1741 in der Gegend von Keeken, nördlich von Kleve, einfach an Land gesetzt. Von diesen 20 Familien blieben 12 Familien übrig. Die restlichen 8 zogen zum Teil zurück, und es erwartete sie in der Heimat größeres Elend als zuvor, oder wanderten weiter und sind seitdem verschollen.

Von den 12 Familien, die sich nach langen Verhandlungen auf der Gocher Heide ansiedeln konnten, weiß man heute sehr viel. Darüber ausführlich zu berichten, würde aber den Rahmen dieses Vortrags sprengen.

Meine Vorfahren mit dem Namen „Barth“ gehörten nicht zu den 12 vorgenannten Familien. Sie kamen mit einer Auswanderergruppe sechs Jahre später im Jahre 1747 -  47 Familien stark.

Allerdings kamen diese Menschen gezielt auf die Gocher Heide, sie hatten wohl von den ersten Siedlern von den günstigeren Bedingungen als in ihrer Heimat „Pfalz“ gehört. Außerdem war der preußische Königshof den Asylsuchenden freundlich gesinnt. Friedrich der Große stand dieser „inneren Kolonisation“ positiv gegenüber.

Also: Am 28.04.1747 wurden zwei Brüder „Barth“ mit ihren Familien aus der „Manumission“ (Leibeigenschaft) von Steinbach in der Kurpfalz entlassen. Der ältere der beiden Brüder, Johann Peter mit Namen, war zu diesem Zeitpunkt schon 41 Jahre alt, verheiratet mit Anna Maria Elisabeth Kappes, ebenfalls 41 Jahre alt. Er stammte wie sein jüngerer Bruder aus Steinbach bei Simmern. Die Familie Barth / Kappes wurde mit vier Kindern entlassen, zwei Kinder waren vorher in Steinbach gestorben.

Der jüngere Bruder Johann Nicolaus war zehn Jahre jünger, also erst 31 Jahre alt, seine Frau, Stiehl Maria Catharina, zählte zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre – schon ein großer Unterschied. Sie nahmen fünf Kinder mit. Wenn man bedenkt, wie klein einige der Kinder während dieser beschwerlichen Reise waren ! Von Johann Peter zwischen ein und fünfzehn Jahren und von Joh. Nicolaus zwischen ein und acht Jahren !

Wie schwer es die ersten Kolonisten, auch die, die in späteren Jahren kamen, am Anfang auf der Gocher Heide hatten, übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Außerdem besagte ein königlich – preußisches Edikt, daß auf dem sgn. „platten Lande“ keine Handwerker angesiedelt werden durften. Was aber die Berufe der Emigranten vom Sommer 1741 anbelangte, so bekannten die späteren Pfalzdorfgründer selbst:  „.....dabei haben wir unter uns alle Handwerksleute, als Maurer, Schreiner und dergleichen...“

Anfangs hausten die Auswanderer im Freien oder in Erdhöhlen, als aber der Winter kam, wurde ein Ausweichen in Privatquartiere oder Gasthöfe in den umliegenden Orten unumgänglich. Es gibt noch Rechnungen, wonach z.B. im Postgasthaus in Wesel für vier Bund Stroh bezahlt werden mußte.

Nun, trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten konnten die Pfälzer auf der Gocher Heide seßhaft werden. Die vier Kinder meines Vorfahren Johann Peter Barth überlebten in Pfalzdorf. Der Vater heiratete ein zweites mal, als die Mutter Anna Maria Elisabeth geb. Kappes 1758, zwölf Jahre nach der Auswanderung, starb. Er lebte zehn Jahre länger und starb 62jährig im Jahre 1768 in Pfalzdorf.

Von ihren vier Kindern waren zwei Mädchen und zwei Buben, die nacheinander 1757, 1759, 1764 und 1770 in Pfalzdorf heirateten. Die beiden Mädchen habe ich mit ihren Familien noch eine Weile verfolgt und habe mich dann ausführlicher mit den Familien der beiden Jungen befaßt.

Der ältere der beiden, Johann Christoph Barth, wurde mein Vorfahre. Er ist mein Ururururgroßvater, also viermal „Ur“großvater. Sein jüngerer Bruder Valentin ist der dreimal „Ur“großvater von Erich Barth aus Bönninghardt.

Mein viermal Urgroßvater war also noch in Steinbach in der Kurpfalz 1742 geboren. Man nahm ihn als knapp fünfjährigen mit auf die Reise. Im Alter von 22 Jahren ehelichte er in Pfalzdorf Maria Catharina Barth. Die Väter von beiden, man höre und staune, waren Vettern.

In Pfalzdorf bekamen sie drei Kinder, 1766, 1769 und 1773. Nach dieser Zeit fand ich keine Eintragungen mehr in den Kirchenbüchern von Pfalzdorf. Es ist auch kein Wunder, denn für die wachsende Familie war kein Platz mehr in Pfalzdorf.

Mit der Vergabe der letzten Heidegrundstücke der „Gocher Heide“ mußte der Siedlungsraum der Pfälzer am Niederrhein zwangsläufig über die Grenzen der Gocher Heide hinaus anwachsen. Man mußte sich also nach anderen Siedlungsmöglichkeiten umsehen. Das Augenmerk fiel zuerst auf die im Raume Sonsbeck, Alpen, Issum gelegene Bönninghardter Heide, welche teils preußischer, teils kurkölnischer Besitz war. Sie wurde schon im Jahre 1769 von den ersten sechs Kolonisten bezogen, welche, bedingt durch die mangelhaften Boden – und Wasserverhältnisse dort eine wenig glückhafte Kolonisation begannen. Da sie vermögenslos waren, kamen sie in dem bösen Winter 1771/72 in große Not.

Ein Bericht vom 20.01.1772 aus der nächstgelegenen Stadt Sonsbeck schilderte ihre Lage: „Sie haben nichts zu essen und sehr wenig zu decken; um dem Hunger, soviel möglich, auszuweichen, oder denselben zu verspäten, liegen sie beständig zu Bette, endlich aber, wenn er überhaupt nimmt, muß derjenige, so noch die mehrsten Kräfte hat, hinaus, um Brot zu holen. Mit Betteln, ihrem ordinären Handwerk, können sie in der Stadt wenig oder nichts bekommen.“

Am 01.06.1774 kam Johann Christoph Barth mit seiner Frau Maria Catharina geborene Barth in Bönninghardt, aus Pfalzdorf kommend, an. Ob zu diesem Zeitpunkt seine drei in Pfalzdorf geborenen Kinder noch alle lebten, kann ich nicht sagen, denn ich habe nur die Existenz des ältesten Sohnes weiter verfolgen können.

Am 03.06.1776 wird in Bönninghardt das vierte ihrer Kinder geboren. Diesem folgen noch drei Kinder, 1780, 1783 und 1788. So hat Maria Catharina in 22 Jahren sieben Kinder geboren. Ihr vermutetes Geburtsjahr ist 1739. Geboren ist sie definitiv in Neuerkirch in der Kurpfalz. Sie starb im Alter von 70 Jahren. Ihre Sterbeurkunde fand ich im Sonsbecker StA; Johann Christoph wurde 80 Jahre alt. Sein Tod wurde im Sterbebuch des Alpener StA vermerkt. Diese Eintragung fand Herr Norbert Cleve im Archiv in Brühl, womit ich überhaupt erst den Einstieg in diese ganze Einwanderungsgeschichte fand. Sollte ihr Geburtsjahr stimmen, so hätte sie mit 49 Jahren ihr letztes Kind geboren

Von den sieben Kindern dieses Paares ist das sechste mein direkter Vorfahre, wieder Johann Christoph Barth mit Namen. In der Geburtseintragung im Alpener Kirchenbuch steht allerdings als Vorname „Christoffel“. Schon in sehr jungem Alter zog er als Musikant durch die Lande. Wahrscheinlich war er in Begleitung seiner Eltern. Natürlich weiß ich nicht, welcher Instrumente sie sich dabei bedienten, denn sicher hatten sie kein Geld, um sich solche zu kaufen. Vermutlich hatten sie sich aus Rohr flötenähnliche Gebilde hergestellt, oder sie benutzten nur ihre Stimmen. Aber das ist reine Vermutung.

So lernte er wahrscheinlich auch seine erste Ehefrau kennen, die aus Heinsberg stammte. Sie war die 5½ Jahre ältere Sophia Schock. Er war am Hochzeitstag vor dem Gemeindeagenten Caspar Bayer zu Bönninghardt am Donnerstag, dem 25.04.1799, noch nicht einmal ganze 16 Jahre alt. Die wurde er erst zwei Monate später. Komischerweise wird in der Urkunde sein Alter mit 17 Jahren angegeben, obwohl sein Geburtsdatum, der 05.07.1783 ebenfalls aufgeführt wird.

 

Auf einer Extraseite möchte ich den sgn. originalen „Heyraths – Akt“ wiedergeben.

 

Kinder aus dieser Ehe konnte ich nicht entdecken, aber ich glaube,daß die junge Ehefrau einige Zeit später starb, oder die Eheschließung wurde ob des Alters von Christoffel wieder annulliert.

 

Die nächste Eheschließung absolvierte Christoffel im Alter von 20 Jahren in Sonsbeck kirchlich und standesamtlich. Die Braut war diesmal die 19jährige Catharina Elisabeth Geraths, die 1784 in Dahlen (heute Rheindahlen) geboren wurde. Wahrscheinlich hat er sie auch auf seinen Wanderungen als Musikant kennen gelernt. Sechzehn Monate nach ihrer Eheschließung am 04.12.1803 wird ihre älteste Tochter Elisabeth am 31.03.1805 geboren und im Standesamt von Sonsbeck angemeldet.

Vermutlich zwei Jahre später erblickt der Sohn Johann das Licht der Welt. Seine Heiratsurkunde besitze ich aus dem Jahre 1834, in der steht, daß er 27 Jahre alt sei und in Sonsbeck geboren wurde – nur – dort ist die Urkunde nicht zu finden. Später entdeckte ich sie, zwar nicht in Sonsbeck, sondern in Kevelaer. Wahrscheinlich waren die Eltern wieder auf Wanderschaft und in Kevelaer kam am 11.05.1807 der Sohn Johann zur Welt.

Wieder zwei Jahre später wird am 22.11.1809 in Bockum (heute Krefeld-Bockum) das dritte Kind geboren, ein Mädchen, das die Vornamen Maria Christina erhält. Wieso das Kind in Bockum geboren wurde, läßt sich nur erklären, daß die Eltern unterwegs waren und die Mutter hochschwanger dort zurück gelassen wurde, um zu entbinden. Die beiden Zeugen im StA Bockum, Peter Muthen und Mathias Kirschbaum, stammten aus Vennikel (heute Krefeld-Traar). So kann man davon ausgehen, daß die Geburt in Vennikel stattfand. Zu diesem Zeitpunkt war der Vater des Mädchens, der Christoffel Barth, aber schon am 10.07.1809 im Alter von 26 Jahren in Aachen verstorben. Bis jetzt habe ich noch keine Erklärung gefunden, aus welchem Grunde er in Aachen war und woran er gestorben ist.

Nun kommt der Witz! Barth Catharina Elisabeth geb. Geraths bekommt am 02.07.1812 in Straelen ein viertes Kind, wieder ein Mädchen und läßt von der Hebamme als Vater ihren drei Jahre zuvor verstorbenen Ehemann eintragen. War diese meine Vorfahrin eine leichtlebige Frau? Ich glaube es nicht. Unter den vorher geschilderten Umständen in Bönninghardt eine Familie und dann auch noch ohne Vater zu ernähren, wird wohl schlimm gewesen sein. Es gab ja kaum sgn. „anständige“ Berufe. Die Familien hielten sich jahrzehntelang mit Besenbinden, Lumpensammeln und Beerensuchen über Wasser. Zum Teil griff man zum Hausierhandel, oder wie meine „Barthvorfahren“ zog man als Straßenmusikanten von Ort zu Ort.

Bis 1868 war Bönninghardt ohne Kirche und bis 1851 ohne Schule. Die Bönninghardter Kinder mußten in Alpen die Schule besuchen, wenn überhaupt – und die Gemeinde nach Alpen zur Kirche gehen. Was das in einer Zeit, in der es weder Fahrräder noch öffentliche Verkehrsmittel gab, bedeutete, kann sich jeder leicht vorstellen. Die weiten und schlechten Wege waren zum großen Teil nicht zumutbar, zumal der Unterricht vor – und nachmittags abgehalten wurde. Außerdem wurden die Kinder lieber auf den Bettel und Besenhandel mitgenommen. Die Leute aus der Bönninghardt wurden mehr und mehr für die umliegende Gegend zur reinen Landplage. Die Jugend wuchs wild und verwahrlost auf. Es herrschte durch Wassermangel große Unsauberkeit. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts (ich schrieb diese Geschichte bereits 1995 – also bis 1850/60) gab es dort keine Brunnen. Die Leute ernährten sich von Schwarzbrot und Kartoffeln. Mehl, Schmalz, Oel und Salz wurden durch die Kinder meist gegen Besenaustausch aus Sonsbeck, Alpen und Veen herbeigeholt. Als Obdach dienten armselige Hütten, sgn. Plaggenhütten, deren Fußboden aus gestampftem Lehm bestand; die Wände und Dächer waren undicht und mußten gegen Einsturz gestützt werden. Als Betten benutzte man Bündel und Lumpen, die einer Reihe von Personen als Lager dienten. Im Jahre 1839 finden wir die Heide bereits von 180 Familien und 940 Seelen bewohnt.

 

So könnte ich noch lange fortfahren. Man stelle sich nur vor , daß in dieser Zeit meine Vorfahren dort lebten. Kein Wunder, daß die älteste Tochter von Christoffel Barth und Cath. Elisab. Geraths, mit Namen Elisabeth, 1805 in Bönninghardt geboren, meine direkte Vorfahrin, sechs Kinder von einem Mann bekam, mit dem sie gar nicht verheiratet war. Er hatte eine Ehefrau, die ihm schon drei Kinder geboren hatte. Er heiratete meine Ururgroßmutter erst, nachdem seine erste Ehefrau gestorben war und bekam noch zwei, diesmal eheliche Kinder, von seiner zweiten Ehefrau Elisabeth Barth. Ein Jahr nach der Geburt des achten Kindes starb der Ehemann meiner Ururgroßmutter, der ja auch mein Ururgroßvater wurde. Er hieß Johann Giesen und stammte aus Bislich.

Nach seinem Tod heiratete Elisabeth Giesen geb.Barth noch zweimal. Von ihrem zweiten Ehemann ließ sie sich nach sechsjähriger Ehe scheiden! Man stelle sich vor, im Jahre 1854! Kurz darauf ehelichte sie ihren dritten Mann, er war 21 Jahre jünger als sie. Auch ihn überlebte sie und starb 83jährig in Bockum. Von ihren acht Kindern wurde die älteste Tochter mit Namen Lisette meine direkte Vorfahrin. Sie heiratete in Bockum im Jahre 1846 meinen Urgroßvater Leonard Michels, der aus Venray stammte. Das Eheglück dauerte 32 Jahre, dann starb zuerst der Leonard. Sie bekam natürlich auch eine stattliche Menge von Kindern, acht an der Zahl. Meine Großmutter war das sechste Kind. Ihre Mutter Lisette Michels geb. Giesen wurde 89 Jahre alt und starb in Bockum auf der Verberger Straße. Nun ist es leicht für mich, denn die weitere Geschichte spielte sich in Bockum ab. Meine Großmutter heiratete dort den Witwer Friedrich Wilhelm Tiefers und bekam mit ihm sieben Kinder, wovon mein Vater das sechste war.

Von allen Kindern der „Tieferssippe“ bin ich die Letzte – es waren sowieso nur zwei da. Mein einziger Vetter gilt während des zweiten Weltkrieges als vermißt. Ich habe drei Töchter und zwei Enkel, die meinen Geburtsnamen nicht weiter tragen.

Allerdings kann ich, Dank den Pfälzer – Forschern, die „Barthlinie“ bis in den Hunsrück verfolgen – und das, von den ersten Auswanderern angefangen -  noch drei Generationen zurück. Ich schätze, ich komme dann bis etwa in das Jahr 1639 zurück. Dann habe ich 13 Generationen erforscht.

 

Zurück / back