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Eine gekürzte Betrachtung aus meiner eigenen Familiengeschichte

recherchiert von Hannelore Neffgen geb. Tiefers

Zuvor möchte ich bemerken, daß meine Mutter am 2. Oktober 1896 in Essen geboren ist. Dieser lapidare Eintrag stand im Familienbuch meiner Eltern. Natürlich besorgte ich mir die Kopie der standesamtlichen Geburtsurkunde, daraus hervorging, daß sie in der Kapellenstr. Nr.6 geboren wurde. Auf einem alten Stadtplan fand ich schnell die Kapellenstraße, die heute nicht mehr existiert, weil das ganze Viertel im Bombenhagel des 2. Weltkrieges unterging.


Aber ganz in der Nähe dieser Straße stand auf dem alten Plan die Marienkirche, die auch auf dem neuen Stadtplan existiert. Ich vermutete, daß meine Mutter sicher in dieser Kirche getauft wurde und fuhr dorthin. Neben der Ruine der zerbombten hatte man eine neue Kirche aufgebaut und meine Vermutung wurde bestätigt.


Ich kam mit der Pfarrsekretärin ins Gespräch und fragte sie, ob die Umgebung der Marienkirche, das sogn. “Segeroth” in Essen, wirklich solch eine verrufene Gegend im vorigen Jahrhundert gewesen sei, wie mir ein gebürtiger Essener erzählt hatte. Da wurde sie fuchsteufelswild und meinte, ich solle mir doch mal das Buch in der Universitätsbücherei mit dem Titel “Essens wilder Norden” besorgen, darin würden all meine Fragen beantwortet.


Gesagt - getan.

Auf der Rückseite des Umschlags stand eine kurze Beschreibung: “Die einzelnen Textbeiträge und die Fotos dieses Bilder-Lese-Buches zeichnen die Geschichte dieses Arbeiterviertels realitätsgetreu nach. Dabei entsteht eine sozialgeschichtliche Studie über ein Stiefkind des Urbanisierungsprozesses, in der sich exemplarisch die sozialen und städtebaulichen Fehlentwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts widerspiegeln.


Im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in vielen Großstädten Stadtviertel, die durch hohe Belastung mit sozialen und industriellen Folgeproblemen gekennzeichnet waren. Zu ihnen gehörte auch das Mietskasernenviertel Essen-Segeroth, das schon kurz nach seiner Entstehung einen weit über die Essener Stadtgrenzen hinausreichenden Ruf genoß. Die Erinnerung an dieses Viertel, das im Bombenhagel des 2. Weltkrieges unterging und seit den 70er Jahren Standort der Essener Universität ist, schwankt bis heute zwischen Stigmatisierung, Mystifizierung und sentimentaler Erinnerung: Weite Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit verbanden mit dem Segeroth die Vorstellung eines sub-proletarischen Sodom und Gomorrah aus Mietskasernenelend, Gewalt, Kriminalität und Prostitution.”


Nun war die Frage: Wie kamen die Eltern meiner Mutter dorthin und was waren sie für Menschen? Das ist einfach zu beantworten.


Der Großvater stammte aus Frickhofen, einem kleinen Ort im Westerwald ohne Industrie und Zukunftsaussichten. Er folgte seinem älteren Bruder, der bei Krupp eine Anstellung gefunden hatte. Die Großmutter war gebürtig in Schermbeck, einem Ort in der Nähe von Haltern. Sie war das jüngste Kind eines Erbhofbauern, die ihr Geld vermutlich in einem Essener Haushalt verdienen mußte.


Nun möchte ich aus dem Buch “Essens wilder Norden” zitieren: “ Vor dem ersten Weltkrieg war das Segeroth das “klassische Zuwandererviertel” Essens, ein Sammelbecken für Zuwanderer aus nah und fern gelegenen ländlichen Gebieten. In mehreren Wanderungswellen strömten sie zunächst aus den Nachbarprovinzen (mein Großvater aus Hessen) und aus Mitteldeutschland, später aus den ost-und westpreußischen Gebieten nach Essen und siedelten sich vorwiegend im Segeroth an. Mit dieser Entscheidung waren gleich mehrere Vorteile verbunden: der Zuwanderer hatte nur einen kurzen Anmarschweg zum Arbeitsplatz, er bezahlte relativ geringe Wohnungsmieten und er mußte sich innerhalb des Viertels nicht mit möglichen Ressentiments einer angestammten Einwohnerschaft auseinandersetzen.


Die Kruppsche Gußstahlfabrik mit ihrem stetig wachsenden Bedarf an Arbeitskräften zog jene Neuankömmlinge an. Diesem Ansturm der Arbeitermassen war das noch unverändert kleinstädtisch geprägte Essen indessen nicht gewachsen. So ließ allen voran Alfred Krupp in der städtischen Feldmark Wohnungen für die unaufhörlich nachdrängenden Zuwanderer errichten. Auf diese Weise bildete sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf dem Segerothareal ein neues Wohnviertel heraus, in dem 1886 bereits über 8000 Menschen zusammenlebten. Die industrienahe Wohnlage bürdete den Segerothbewohnern vielfältige ökologische Belastungen auf. Vor allem die Emissionen der Kruppschen Fabrik gingen bei herrschendem Westwind im Segeroth nieder und überzog das Viertel mit Ruß und Staub.


Außer Krupp hatte vor allem der Essener Bauunternehmer Piekenbrock, den die Presse mit dem Spitznamen “Hausvampir” bedacht hatte, ganze Straßenzüge auf die primitivste Art errichtet, wie beispielsweise die Kapellen-, Paul- und Schulstraße. Hier konnten die Arbeiterfamilien die Miete ihrer Kleinstwohnungen nur durch Aufnahme von Kost- und/oder Schlafgängern aufbringen. Dies waren unverheiratete Männer, die sich ein Bett teilten. Wenn der eine von der Schicht zurückkam, kroch er in das warme Bett seines Vorgängers, der zur Schicht eilte.


Die erheblichen “Überschüsse” an ledigen, jungen Männern im Viertel sorgten für eine entsprechende Nachfrage auf dem Prostitutionsmarkt. Als potentielle Kunden kamen die zahlreichen Schlaf- und Kostgänger sowie Ehemänner hinzu, deren sexuelle Bedürfnisse angesichts mangelnder Privatsphäre unbefriedigt bleiben mußten.


Als meine Mutter 1½ Jahre alt war, starb ihr Vater, mein Großvater, an einer Lungenentzündung im Alter von 42 Jahren, die er sich wahrscheinlich durch das Einatmen der ständigen Emissionen zugezogen hatte. Die Großmutter kehrte mit ihren Kindern in ihre Heimat Schermbeck zurück. Wie mir ein Ahnenforscher aus Essen erzählte, war es auch zu dieser Zeit noch gar nicht möglich, für die Hinterbliebenen der Kruppschen Arbeiter, in der werkseigenen Wohnung zu bleiben. Wo aber sollte sie mit ihren Kindern in Schermbeck bleiben? Da kam ja nur der Hof ihrer Eltern in Buschhausen infrage. Das wird aber wahrscheinlich nicht so einfach gewesen sein, denn hier war ja inzwischen die Witwe ihres verstorbenen Bruders, der den Hof geerbt hatte, die maßgebende Bäuerin. Auch sie hatte eine große Schar von Kindern zu versorgen, die im gleichen Alter wie die drei Mädchen der Großmutter waren. Mit der Zeit werden sie sich wohl arrangiert haben, was bestimmt nicht immer glimpflich ablief.


Wie meine Mutter mir erzählte, dauerte dieser Zustand fast 10 Jahre. Danach hatte ihr Witwendasein ein Ende, denn die Großmutter heiratete am 31.02.1908 in Schermbeck den Sattlermeister Heinrich Wilhelm Schlickmann und zog mit ihren drei Kindern zu ihm in das Haus gegenüber der Kirche. Auch das war sicher keine leichte Entscheidung, wie sich später herausstellen sollte.



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