Die Reichskristallnacht in Montabaur

Franz-Josef Löwenguth

(aus "Wäller Heimat" - Jahrbuch des Westerwaldkreises 1989 - hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Westerwaldkreises)

Ich war damals erst neun Jahre alt und kann mich trotzdem noch gut an das Geschehen erinnern.

Irgend etwas lag in der Luft. Ich saß am Tisch in unserer Küche hinter unserem Laden und machte Laubsägearbeiten. Irgend etwas war anders als sonst.

Ich ging in unseren Laden. Meine Mutter stand hinter der Theke und sprach gedämpft mit einigen Kundinnen. Eine Frau hatte Tränen in den Augen, die sie sich mit einem Taschentuch abtupfte. Ich hörte nur noch den Schlußsatz der Kundin. Sie sagte: „Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde es nicht glauben“. Eine weitere Kundin kam durch die Ladentür und setzte sich auf die weiße Bank, die gleich hinter der Tür stand. Sie war ganz aufgeregt und hinter dem Atem. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Meine Mutter ging vor die Ladentheke und sprach leise mit ihr. Als ich neugierig näher trat, schickte man mich zur Küche zurück. Irgend etwas war im Gange. Das war mir klar. Trotz Verbot glückte es mir, die Straße zu erreichen. Ich lief zum Rathaus, denn hier war eine größere Menschenansammlung. Ich hörte Schreie und Frauen, die kreischten. Ein Durchkommen war mir nicht möglich. Vielleicht hatte ich auch nur zuviel Angst vor dem, was hier geschah. Was es war, wußte ich nicht, denn ich war ja erst neun Jahre alt.

Doch kann ich mich noch genau an eine Begebenheit erinnern, die mir noch heute genau vor Augen steht, als wäre sie gestern erst passiert.

Etwas zurück von den Neugierigen standen ein Mann und eine Frau. Sie waren

Blick über die Stadt Montabaur um die Jahrhundertwende. Im Vordergrund rechts die Synagoge in der Wallstraße.

sehr gut gekleidet. Der Mann hatte einen dunklen Mantel mit Pelzbesatz, seinen steifen, dunklen Hut und Handschuhe an. Die Frau trug einen dunklen Mantel mit weißem Pelzkragen. Sie lehnte sich ängstlich an den Mann und sagte nur: „Mein Gott“. Irgendwie kam mir durch diese zwei Worte das Furchtbare dieser Situation zum Bewußtsein. Ich rannte nach Hause, wo ich von meiner Mutter schon erwartet wurde. Als sie mich so verängstigt sah, machte sie mir keine Vorhaltungen über mein Fortlaufen, sondern sie schloß den Laden ab und machte das Licht aus. Wir gingen zusammen in die Küche, und auch hier löschte sie das Licht. Wir setzten uns vor den Kohleherd, dessen Türchen sie etwas öffnete, so daß man das Flackern des Feuers etwas sehen konnte. Dann haben wir zwei zusammen gebetet. Ich kann mich heute, ein halbes Jahrhundert später, noch daran erinnern, daß ich plötzlich wieder ein Gefühl der Geborgenheit hatte, wie ich es immer hatte, wenn ich mit meiner Mutter vor unserem Kohleherd „Dämmerstunde“, wie wir es damals nannten, machte. Auch mein Vater kam kurze Zeit später. Er schüttelte nur den Kopf und sagte gar nichts. Am anderen Tag ging ich mit einigen Freunden durch die Stadt. Überall waren Fenster bzw. Schaufenster eingeschlagen und mit Brettern verschalt. Man hatte verschiedentlich mit roter Farbe „Jude“ auf die Bürgersteige geschmiert. Vor der Synagoge fand ich Bleireste von den bleiverglasten Fenstern des jüdischen Gotteshauses. Ich nahm mir etwas mit, denn Blei war, in Stücke gehackt, die beste Munition für meine Schleuder, die ich, wie auch die meisten meiner Freunde, immer in meiner Hosentasche mit mir schleppte. Als ich zu Hause das gefundene Blei mit der Beißzange in kleine Stücke zerlegen wollte, fragte mich meine Mutter, wo ich das her habe. Ich sagte: „Von der Synagoge.“ Ich habe meine Mutter selten so aufgeregt gesehen. Sie nahm mir das Blei weg, packte es in Papier, und ich mußte es sofort wieder zurückbringen. Aber damit nicht genug. Ich mußte es auch noch beichten. „lch habe gestohlen“, beichtete ich bei Herrn Pfarrer Jäger. Als ich sagte, um was es ging und daß ich es wieder zurückgebracht hatte, lobte er mich im Beichtstuhl.

Ungefähr aus der gleichen Zeit habe ich noch ein Schockerlebnis genau im Gedächtnis. Damals nahm man es mit dem Ladenschluß nicht so genau. Unsere Küche lag, durch einen schmalen Gang verbunden, hinter unserem Laden. Meine Mutter hatte nach Geschäftsschluß immer noch viel Hausfrauenarbeit zu verrichten, sie bügelte und flickte. Das große Licht im Laden war aus, und wenn eine Kundin die Ladentür öffnete, dann bimmelte es und meine Mutter ging in den Laden. Wie gesagt, bei Geschäftsleuten, die keine Angestellten hatten, konnte man noch lange nach Ladenschluß einkaufen. Eines Abends gab mir meine Mutter Geld und schickte mich in ein anderes Geschäft, etwas einzukaufen. Als ich dieses Geschäft durch die Eingangstür betrat, sah ich den Geschäftsmann mit einigen SA-Leuten in Uniform etwas trinken. Ich sagte laut: „Guten Abend“, wie es sich für einen braven Jungen gehörte. Da sprang der Geschäftsmann auf und schlug mich ins Gesicht, so daß ich zu Boden fiel. Aber damit noch nicht genug. Er zog mich hoch und schlug weiter. Dabei schrie er: „Euch Schwarze bringen wir auch noch dazu, "Heil Hitler" zu sagen“. Ich lief mit blutender Nase heulend nach Hause. Mein Vater fragte mich: „Was ist passiert?“ Ich erzählte alles schluchzend, wobei mir meine Mutter ein Taschentuch an die blutende Nase hielt. Mein Vater schrie: „Dieser dreckige . . ., dieses Schwein, dem schlage ich jetzt auch die Nase ein!“ Er machte Anstalten, die Küche zu verlassen. Meine Mutter hielt ihn mit Gewalt zurück.

Dieses Erlebnis hat sich so in mein Gedächtnis eingegraben, daß ich noch heute ungern daran denke. Für mich waren diese Schläge furchtbar. Wenn ich aber daran denke, was man mit jüdischen Kindern in meinem Alter gemacht hat, dann war mein Erlebnis nur ein Klacks.

Der Bericht der Feuerwehr

In der Chronik der freiwilligen Feuerwehr Montabaur liest sich der schlimmste Tag in der Geschichte unserer Stadt wie ein normaler Brandbericht:

„Am 10. November 1938 fand eine Demonstration gegen die Juden statt. Gegen 7.00 Uhr begann dieselbe, und es wurden sämtliche Schaufenster der Geschäfte und alle Fenster an den jüdischen Häusern eingeschlagen. Die Feuerwehr wurde von dem Herrn Bürgermeister alarmiert, um die Schaufenster zu räumen, und nun wurden dieselben und die Fenster und Türen verschalt. Ebenso wurde das Feuer in den Öfen ausgemacht. Die Synagoge war auch in Brand gesetzt worden. Das Feuer konnte nicht richtig brennen und war schnell wieder erloschen, so daß die Gefahr eines Umsichgreifens auf die anderen Häuser vorüber war. Um die Verschalung von Schaufenstern, Fenstern und Türen zu bewerkstelligen, wurde unser Feuerwehrauto genommen und in dem Sägewerk von Otto Quirmbach Latten geholt. Wir hatten bis halb drei Uhr nachts zu tun, bis alles ordnungsgemäß erledigt war. Hierauf konnten wir wieder abrücken.“

Dies sind zwei Kapitel aus dem noch unveröffentlichten Manuskript des Buches „Kleine Stadt in brauner Zeit“. Der Autor, Franz-Josef Löwenguth, hat dazu mehr als hundert Erzählungen zusammengetragen, die Ereignisse in Montabaur während der Zeit von 1933 bis 1945 schildern. Leser der „ Wäller Heimat“, die eigene Erinnerungen, Foto- oder Textdokumente in dieses Buch einbringen möchten, werden gebeten, sich mit dem Verfasser in Verbindung zu setzen.

Das alte Bild zeigt im Hintergrund links das jüdische Gotteshaus. Deutlich ist die Eingangstür zu erkennen. Auf dem Grundstück im Vordergrund wurde im Jahre 1929 das Haus Froning (Hoff) gebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg war in diesem Haus einige Jahrzehnte lang die Kreissparkasse untergebracht.

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