Woher kam der Hass?
 

„Das ist nicht das Land, das meine Eltern getötet hat. Nicht die Deutschen haben uns drangsaliert. Es waren die Hitlerleute, die Nazis.“
Von Hubert Hecker.

Seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) wohnten Juden in der Westerwälder Landgemeinde Frickhofen. Frickhofen befindet sich rund 80 Kilometer nordwestlich von Frankfurt am Main.

Um 1820 lebten im Ort drei jüdische Viehhändlerfamilien. Ihre Kinder besuchten die gemeinsame Dorfschule. Im Jahre 1841 wurden die Juden durch ein herzogliches Edikt den „christlichen Untertanen gleichgestellt“.

Laut einer Statistik von 1843 betreiben im Herzogtum Nassau 80% der Juden einen Handel. Darum lobte der Frankfurter Bankier Amschel Mayer Rothschild tausend Gulden als Lehrgeld aus, damit die „israelitischen Jungen gewerbliche Berufe lernen“.

Aus Frickhofen meldeten sich Nathan Kaiser und Jacob Heilbrunn zum Wollweber- und Schreinerberuf. Aber nach der Lehrzeit kamen sie doch wieder zur Viehhändlerei.

Die Preußen brachten im Jahr 1866 liberale Religionsgesetze ins Land. In dieser Zeit trat ein gewisser Sußmann Kaiser aus der örtlichen Kultgemeinde aus. Da starb seine Frau und es stellte sich die Frage nach der Beerdigung.

Kaiser wurde mit der Alternative konfrontiert: dreißig Taler für die Beerdigung auf dem nächsten jüdischen Friedhof im Dorf Ellar oder fünf Taler Jahresbeitrag in der israelitischen Ortsgemeinde.

Kaiser entschied sich für die fünf Taler. Schon eine Woche nach der Beerdigung seiner Frau trat er aber erneut aus der Ortsgemeinde aus.


Um 1890 wurde in einer Doppelhaushälfte eine kleine Synagoge eingerichtet: sechs Bankreihen unten und die abgetrennte Frauenempore oben.

In dieser Zeit lebten sechs Viehhändlerfamilien im Ort. Zwei jüdische Soldaten fielen im Ersten Weltkrieg für Kaiser und Vaterland – vier jüdische Frickhöfer kehrten wieder heim.

Nach dem Krieg begann im Dorf ein reiches Vereinsleben. Juden wurden Mitglieder im Fußballverein und bei der Feuerwehr. Der Jude Erich Wolf leitete zwei Jahre den Turnverein.

Julius Kaiser war ein eifriger Benützer der katholischen Pfarrbücherei. Sein katholischer Freund Toni Schardt besuchte ihn gerne zum Laubhüttenfest.Auf den Dorffesten waren die jungen Männer aus jüdischen Familien begehrte Tänzer für Charlston und Walzer.

Zur goldenen Hochzeit von Rebecca und Sigmund Heilbrunn sang der Männergesangverein.

Christen und Juden legten Wert auf gute Nachbarschaft, gegenseitige Hilfe im Alltag, gegenseitige Einladungen bei Familienfesten und Trauerfeiern.

Viele christliche Mädchen aus dem Dorf gingen bei reichen Frankfurter Juden als Hausmädchen „in Stellung“ – allerdings mit der elterlichen Warnung: Juden dürften nach Talmud-Lehre christliche Mädchen „nehmen“.

Auch bei der Viehhändlerei gab es nicht nur Minne. Die Ferkel wirkten im Stall „irgendwie kleiner“ als auf dem Viehwagen gesehen. Und: „Gegen die Juden verlierst du jeden Rechtsstreit. Die haben ihre Rechtsanwälte in der Stadt.“

Doch in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kommt das soziale und politische Gefüge in Frickhofen durcheinander:

1932 marschiert erstmals die nationalsozialistische „Schutz-Abteilung“ durch den Ort. Bei den letzten freien Wahlen im November 1932 bekommen die Nationalsozialisten 40% der Stimmen.

Im Jahr 1934 verbietet die Hitler-Partei dem örtlichen Metzgermeister, den jungen Siegfried Rosenthal als Lehrling einzustellen. Rosenthal lernt daraufhin Bäcker in Kassel. Sein Bruder Feodor hat ihm die Lehrstelle besorgt.

Doch so richtig beginnen die Schikanen 1936 – nach den Olympischen Spielen in Berlin. Die sechs jüdischen Viehhändler verlieren ihre Gewerbelizenz. Dennoch verkaufen ihnen die Bauern ihr Vieh weiterhin – heimlich und nachts von der Weide.

„Erst greifen sie nach dem Knoblauch“, den Juden also – sagt der alte Salomon Kaiser – „dann holen sie den Weihrauch“, also die Katholiken.

Tatsächlich beginnt die Hitlerpartei ab 1937 einen verschärften Kampf gegen die Katholiken. Die Nationalsozialisten verbieten im Ort die katholischen Vereine: Katholischen Jungmänner-Bund und Pfadfinder, Marien- und Frauenverein.

Hitlerleute reißen die Fronleichnamsfahnen aus den Hausfenstern katholischer Familien. Der Kaplan wird bespitzelt. Vier katholische Jugendliche bekommen je einen Monat Lagerhaft wegen Unbotmäßigkeit gegenüber Parteieinrichtungen.

Am 9. November 1938 geht es den ungefähr zwanzig jüdischen Dorfbewohnern an den Kragen.

Der Innenraum der kleinen Frickhöfer Synagoge wird verwüstet. SA-Horden überfallen die Häuser der jüdischen Familien und werfen Geschirr und Einmachgläser auf die Straße.

Der Jude Rudolf Hofmann versteckt sich unterm Heu in einer Scheune und wird mit Heugabeln herausgestochen.

Drei jüdische Männer kommen für zwei Monate ins Konzentrationslager Buchenwald. Fünf jüdische Kinder werden ausgeschult.

Zwei Familien beantragen in den USA Asyl. Aber die restriktive Quote von 10.000 Flüchtlingen ist schon Ende Januar 1939 voll – erzählt der Frickhöfer Harry Abraham später.

Im April 1939 gelingt es fünf Personen – darunter Siegfried Rosenthal –, über Genua nach Schanghai auszureisen.

Die 15 verbliebenen Juden werden enteignet und in einem „Judenhaus“ zusammengepfercht.

Sie überleben nur, weil ihre christlichen Nachbarn sie heimlich mit Milch und Brot versorgen, ihre Schuhe und Kleider reparieren oder mit Schulheften und Zeitungen versorgen.

Für die angekündigte „Ausreise nach Polen“ stellen die Dorfbewohner den bedrängten Juden Winterkleidung bereit.

Im August 1942 werden 15 Personen mit dreifacher Kleidung und schmalem Gepäck zum Bahnhof abgeführt.

Ein Lehrer und eine Nachbarin fahren ihnen nach Frankfurt nach und berichten im Ort, daß die Frickhöfer Juden in einer Halle kampieren und auf den Abtransport warten.

Nach dem Krieg konnte der Tod von 11 Personen in den Konzentrationslagern von Theresienstadt, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Auschwitz nachgewiesen werden.

Die übrigen mußten für „tot erklärt“ werden.

Ein entkommener Frickhöfer Jude, Siegfried Rosenthal, ließ sich im Jahr 1948 in Haifa im neu entstandenen Staat Israel nieder.

1967 kommt er zum erstenmal in seinen Geburtsort zurück. Er nimmt regelmäßig an den Klassentreffen seiner alten Volksschulklasse teil.

Nach seiner Pensionierung im Jahre 1982 verbringt er jedes Jahr zwei Sommermonate in seiner deutschen Heimat – Heimat? Das Land, das seine Eltern umgebracht hat?

„Nein“ – antwortet Rosenthal: „Das ist nicht das Land, das meine Eltern getötet hat. Nicht die Deutschen haben uns drangsaliert. Es waren die Hitlerleute, die Nazis“ – sagt er.

Den Umgang mit den ehemaligen SA-Leuten und der Nazi-Kneipe meidet er.

„Deutsch ist meine Muttersprache, Deutschland ist meine erste Heimat, Israel meine zweite“, bekennt er.

65 Jahre nach der nationalsozialistischen Pogromnacht von 1938 organisiert der Autor dieser Zeilen ein Treffen.

Eine Broschüre wird geschrieben, eine Tafel am Rathaus angebracht. Aus Israel, Südafrika und den USA kommen die ehemaligen deutsch-jüdischen Mitbürger des Ortes oder die Kinder der inzwischen Verstorbenen.

Im Pfarrzentrum ist eine kleine Ausstellung aufgebaut. Mehr als achtzig alte und junge Ortsbewohner sind neugierig auf die Ehemaligen und ihre Reaktionen. Sogar der alte Wirt aus der Nazi-Kneipe ist gekommen.

Siegfried Rosenthal ergreift das Wort und erzählt von nationalsozialistischen Schikanen und Nazi-Schlägern – und immer wieder von guten Menschen und hilfreichen Nachbarn.

Zuletzt spricht der Organisator des Treffens: „300 Jahre haben in diesem Ort Christen und Juden in guter Nachbarschaft und dörflicher Gemeinschaft zusammengelebt.

Die böse Saat von Haß und Hetze auf die Juden kam von außen in den Ort und hat auch hier häßliche Früchte getragen.

Die nationalsozialistische Partei und ihre heidnisch-rassistische Ideologie haben in nur zehn Jahren die Gemeinde gespalten, den Frieden zerstört, die jüdischen Mitbürger verfolgt, vertrieben oder vernichtet.

Seien wir wachsam auf gottlose Eiferer, vernunftlose Hetzer und totalitäre Tendenzen.“


Siegfried Rosenthal auf dem Gedenk-Friedhof der ehemaligen  jüdischen Gemeinden von  Frickhofen und Langendernbach

   

Der Gedenkstein auf dem Judenfriedhof Frickhofen/Langendernbach wurde 1971 mit Unterstützung des Landrates vom Kreis Limburg errichtet.Überblick über den Judenfriedhof Frickhofen/ Langendernbach. 1971 in dieser Form von Siegfried Rosenthal und seinem Cousin Walter Heilbrunn wiedererrichtet. Im Vordergrund die übrig gebliebenen Steine des ab 1917 benutzten Friedhofs.

ten die die beiden Ex-Frickhöfer Feodor (*1908) und Siegfried Rosenthal (* 1919) auf eigene Initiative die alten Grabsteine weg und errichteten die Friedhof völlig neu zu seinem jetzigen Zustand. 
Siegfried Rosenthal mit seiner Frau Elisabeth am Grab seiner Großeltern Siegmund und Rebeka Heilbrunn, die beide 1936 starben und  begraben wurden

Siegfried Rosenthal vor dem Rathaus seiner Heimatgemeinde Frickhofen.

Siegfried Rosenthal vor dem Frickhöfer Rathaus

Siegfried Rosenthal vor der neugotischen Synagoge in Hadamar, errichtet 1841Siegfried Rosenthal vor der 1841 erbauten Hadamarer Synagoge. In einem Nebenraum des Gebetshauses wurde Rosenthal als Schüler an den Sabbattagen in Hebräisch und jüdischer Religionslehre unterrichtet.

Siegfried Rosenthal vor der 1841 erbauten Hadamarer Synagoge. 
In einem Nebenraum des Gebetshauses wurde Rosenthal als Schüler an den Sabbattagen in Hebräisch
und jüdischer Religionslehre unterrichtet.

 

Häftlinge des KZ Buchenwald bei Erdarbeiten, Dezember 1938. Im Vordergrund: Albrecht Abraham aus Frickhofen.

 

 Hebräische Aufschrift auf der Tafel: Talmud Torah Schanghai
                                                                                                 5706 (1945/46)
                                                                                          

Eingang mit Blick auf die Emporentreppe der Frickhöfer Synagoge nach Schüler und Lehrer vor der deutsch-jüdischen Schule in Schanghai. Unter den Schülern ist auch Harry Abraham (* März 1938) – Sohn von Albrecht Abraham aus Frickhofen.


Häftlinge des KZ Buchenwald bei Erdarbeiten, Dezember 1938. Im Vordergrund: Albrecht Abraham aus Frickhofen. Die Familie Abraham ist mit Siegfried Rosenthal im April 1939 nach Shanghai emigriert, dem einzigen damals noch erreichbaren Asyl. 1947 ist die Familie nach Amerika ausgewandert.


Nach dem Novemberpogrom und dem KZ-Aufenthalt von drei Frickhöfer Juden setzte die Familie Abrahan alles daran, aus Deutschland zu emigrieren. Im Frühjahr 1939 hatten aber alle europäischen und amerikanischen Staaten sowie Australien für jüdische Auswanderer die Schotten dicht gemacht. In den USA war die Einwanderungsquote schon Ende Januar 1939 erreicht. Als letzter Zufluchtsort für deutsche Juden blieb Shanghai, damals unter japanischer Besatzung. Seit Januar 1939 hatte sich Ida Abraham intensiv um eine Schiffsreise nach Shanghai bemüht. Schließlich konnte sie fünf Passagierplätze reservieren lassen für die Schiffspassage von Genua nach Shanghai. So konnten sich im April 1939 – vier Monate vor Kriegsbeginn – fünf Frickhöfer Juden in Sicherheit bringen: Ida und Albrecht Abraham mit Sohn Harry, Schwager Siegfried Rosenthal und Richard Hoffmann.

In Schanghai lebten während des Krieges – unter japanischer Duldung – ca. 18.000 Juden, hauptsächlich aus Deutschland, die ein eigenes deutschsprechendes Gemeinwesen aufgebaut hatten.


Hebräische Aufschrift auf der Tafel:
Talmud Torah
Schanghai
5706 (1945/46)

 

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