Kulturhauptstadt Europa – Ruhr 2010


Hannelore Neffgen, geschrieben am Tag der Eröffnung  am 09.01.2010

 

Als ich am Nachmittag dieses Tages im Fernsehen die Eröffnung in der Zeche Zollverein verfolgte, ging mir so vieles durch den Kopf. Die Stadt Essen im Herzen des Reviers wird in der nächsten Zeit besonders hervorgehoben.

Es fiel mir ein, dass ich doch vor vielen Jahren oft nach Essen fuhr, um dort die Spur der Familie meiner Mutter mit Namen Brötz aufzunehmen, die im Jahre 1896 in Essen geboren war. In etlichen Jahren ist es mir gelungen viel über das alte Essen zu erfahren, wohin es meinen Großvater Johann Martin Brötz und seine beiden Brüder mit Namen Jakob  und  Georg trieb. Diese drei Brüder wurden im 19. Jahrhundert im Westerwald in den Jahren 1852, 1855 und 1863 geboren, genau genommen in dem kleinen Ort mit Namen Frickhofen.

Die Böden in diesem Teil des Westerwaldes waren schlecht und die Industrie hatte noch keinen Einzug gehalten. Viele junge Männer verließen in dieser Zeit ihre Heimat, um anderswo Arbeit zu suchen. So machten sich auch die drei Brüder Gedanken, wo man ein besseres Auskommen finden könnte.

Jakob, der Maurer gelernt hatte, machte sich zuerst auf den Weg nach Essen. Im Jahre 1880 packte er mit Ehefrau und Tochter Anna sein Bündel, um bei Krupp zu arbeiten. Mit seiner kleinen Familie  wohnte er im Segeroth in der Johannesstraße.  Ein Jahr später folgte ihm sein Bruder Johann, mein späterer Großvater, der zuerst bei ihm Unterschlupf fand. Als dieser heiratete, war die Wohnung wohl zu klein und er zog mit seiner jungen Frau in die Kapellenstraße.

Im Jahre 1893 kam dann der jüngste Bruder, Georg, mit seiner Frau aus Wilkau dazu, der später in der Mauerstraße wohnte. Wenn man auf den alten Stadtplan von Essen schaut, sieht man, dass die drei Familien eng zusammen blieben.

In der Kapellenstr. wurden meinem Großvater vier Kinder geboren, drei Mädchen und als letzten noch ein Sohn. Als dieser vier Jahre alt war, starb die Mutter und der Vater war gezwungen, sich nach einer zweiten Frau umzusehen. Diese zweite Ehefrau wurde meine Großmutter, Johanna Schulte – Loh aus Schermbeck. Auch in dieser zweiten Ehe wurden wieder drei Mädchen geboren, wovon das jüngste meine Mutter war. Leider stirbt der Vater mit noch nicht 43 Jahren an einer Lungenkrankheit, die er sich durch die Abgase der Kruppschen Fabriken zugezogen hatte. Er hinterließ sieben Kinder aus zwei Ehen. Meine Großmutter konnte in der von Krupp gebauten Wohnung nicht bleiben und zog mit ihren Kindern in ihre Heimat nach Schermbeck zurück.

Im Adressbuch Essens von 1896 wurde der Beruf meines Großvaters mit Schmelzer angegeben. Ich weiß, dass er auch bei Krupp arbeitete. Mit dem Wissen aus den Adressbüchern fuhr ich im Jahre 1993 zum ersten Male nach Essen und suchte die Taufkirche meiner Mutter, die Marienkirche im Segeroth, auf. Die Sekretärin der Pfarre suchte mir eine Reihe von Taufeinträgen heraus und ich kam mit ihr ins Gespräch. Ich erzählte ihr, dass ich schon des öfteren von dem früher verrufenen Segeroth gehört hätte. Empört antwortete sie mir, selbst aus dem Segeroth stammend, dass dieser Essener Stadtteil sein zu Unrecht schlechtes Image nicht los würde. Sie empfahl mir ein Buch, das in der Nähe der Kirche St. Marien auf der Segerothstr. in der Universitätsbücherei zu kaufen sei. Ich erstand es für 28 DM – es hat den Titel: „Essens wilder Norden“. Sie machte mich darauf aufmerksam, dass dieses Buch allerdings – zwar gut geschrieben – aber dem wahren Segeroth nicht immer gerecht würde, also auch streckenweise zu einseitig berichtete. Ich will nun eine Reihe von Passagen, die die damalige Zeit – Ende des 19.Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts – beleuchten, hier wiedergeben. Bezeichnend – wahr oder nur tendenziös – fand ich den Spruch:

„Wo man sticht mit Messer,

wo man schießt mit Schrot,

da ist meine Heimat

Essen – Segeroth!“

Wie kam es dazu?

In den 1840er Jahren erlangte das Segerothgelände Bedeutung im Zuge der „Nordwanderung“ des Ruhrkohlenbergbaus als Abbaufeld. Das in den 1850er Jahren Gewinn versprechende Vorkommen der Kohle lockte verstärkt Unternehmen der Eisen und Metall verarbeitenden Industrie an. Im Gefolge jener schwerindustriellen Zusammenballung im Norden der Stadt spülte schließlich eine erste Zuwandererwelle tausende Arbeit suchende Menschen nach Essen. Insbesondere die Kruppsche Gußstahlfabrik mit ihrem stetig wachsenden Bedarf an Arbeitskräften zog jene Neuankömmlinge an, die ganz überwiegend aus den benachbarten Provinzen zugewandert waren.

Die Bevölkerung Essens stieg ständig an, aber das kleinstädtisch geprägte Essen war natürlich dem Ansturm nicht gewachsen. Der alte Wohnungsbestand reichte nicht aus, diese Masse von Arbeitern unterzubringen. Um dem Mangel abzuhelfen, ließen einzelne Unternehmer, vor allen Alfred Krupp, im Segeroth Wohnungen errichten. Allerdings waren diesen Unternehmern daran gelegen, die Arbeiter möglichst nahe ihrer Fabrik unterzubringen. So entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf dem Segerothareal ein neues Wohnviertel für über  8000 Menschen.

Hier möchte ich bemerken, dass gerade in dieser Zeit der „Umzug“ meines Großvaters und seiner beiden Brüder „vom Land“ aus Frickhofen im Westerwald erfolgte.

Die industrienahe Wohnlage bürdete den Segerothbewohnern vielfältige ökologische Belastungen auf. Vor allem die Emissionen der Kruppschen Fabrik gingen bei herrschendem Westwind im Segeroth nieder und überzogen das Viertel mit Ruß und Staub. Es heißt in einem Bericht: „Die Luftqualität war dadurch derart beeinträchtigt, dass der Schularzt 1913 den Schulkindern des Segeroths den schlechtesten Gesundheitszustand aller Essener Kinder attestierte“.

Jetzt verstand ich auch, warum mein Großvater schon im Alter von 42 Jahren starb. Seine beiden Töchter aus zweiter Ehe, die älteren Schwestern meiner Mutter, starben ebenfalls in jungen Jahren an den Spätfolgen dieser Krankheit, verursacht durch die jahrelang eingeatmete Luft der Kruppschen Fabrik.

Dabei hatten die Familien der Brötzbrüder noch Glück, weil sie (zwar in primitiven Wohnungen ohne sanitäre Einrichtungen ) in kruppschen Häusern lebten. In dem Buch wird über einen Essener Bauunternehmer namens Piekenbrock berichtet, dem die Presse den Spitznamen „Hausvampir“ verpaßt hatte. Er besaß im Segeroth ganze Straßenzüge und vermietete fast nur einzelne Räume. Viele Arbeiterfamilien konnten selbst die Miete ihrer Kleinstwohnungen nicht bezahlen. Viel besser ging es aber denjenigen auch nicht, die in kruppschen Wohnungen lebten. Hier waren, man stelle sich das mal vor, bis zu 1600 Menschen in 16-Bett-Zimmern zusammen gepfercht. Die drangvolle Enge und die fehlende Privatsphäre erhöhten die Gewaltbereitschaft der Bewohner und deren sexuelle Frustrationen begünstigten die Ausbreitung der Prostituierten im Segeroth.

Man kann also abschließend sagen: „Essen hat den der Brüdern kein Glück gebracht.“

 

Ich habe natürlich im Laufe der Zeit auch das Leben der beiden Brüder meines Großvaters weiter verfolgt. Auch sie litten unter den gleichen Umständen und wurden, wie mein Großvater, nicht alt. Mit den meisten ihrer Nachkommen habe ich Kontakt. Einige Familien blieben Essen treu, keins der Kinder der drei Brüder ging in die Heimat ihrer Väter nach Frickhofen zurück. Erst durch meine Ahnenforschung erfuhren sie, dass ihre Großväter oder Urgroßväter aus Frickhofen stammten.

Heute ist Frickhofen ein nettes Örtchen mit einer interessanten Vergangenheit. Im vorigen Jahr feierte man dort die Gründung vor 1200 Jahren. Dort wohnen noch einige Familien mit dem Namen „Brötz“.




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