Im Jahre 1950 geschrieben.

August Habicht ist geboren 1869 in Dillenburg-Eibach und gestorben 1960 in Künzelsau.


Heute im 81.Lebensjahr will ich im Nachfolgenden versuchen meine Lebenserinnerungen, soweit dieselben noch in meinem Gedächtnis gegenwärtig sind, für meine Nachkommen aufzuschreiben.


Von der Zeit vor meinem 6.Lebensjahr sind mir nur wenige Erinnerungen geblieben. Ich weiß noch, wie ich mit meinen jüngeren Brüdern auf der Diele unseres einzigsten Wohnzimmers mit Holzscheiten und alten Scherben gepielt habe. Dabei hat mir einmal mein Bruder Wilhelm mit einem harten Gegenstand auf die Finger gehauen, daß die Spitze des Ringfingers der linken Hand gequetscht wurde, so daß noch heute die Spuren davon an dem Finger zusehen sind. Ich erinnere mich auch noch, wie wir die Tage vor Weihnachten abends Heu in das sogenannte Hühnerloch, das sich neben der Haustür befand, legten, damit das Christkind seinen Esel füttern konnte, wenn es mit seinem Eselsfuhrwerk an unserem Hause hielt, wenn es uns was bringen wollte. Damals war es nicht der Niklaus der den kleinen Kinder was brachte, sondern das Christkind selbst, das vor seinem Schlitten mit Schellengeläut einen Esel gespannt hatte. Wir stellten dann auf unseren Tisch jeder ein kleines Körbchen, in welches das Christkindchen die Sachen für uns legen sollte. Am heiligen Abend gingen wir dann früher schlafen, nachdem unsere Mutter erst mit uns gebetet hatte, und wir versprochen hatten, immer lieb und brav zu sein. Wir schliefen dann doch nicht gleich ein und lauschten noch, ob wir nicht das Schellengeläute von Christkindchens Esel hören könnten, wann es vor unserem Hause hielt. Am 1.Weihnachtsmorgen weckte uns dann die Mutter schon vor Tagesgrauen und wir fanden unsere kleinen Körbchen gefüllt mit Äpfel und Nüssen, einem süßen Wecken, einem Bilderbuch, ein buntes Taschentüchle und vielleicht auch noch ein buntes Halstüchle. Damit war dann die Bescherung im Elternhaus erschöpft und das Christkind hatte nach unserer Meinung einmal wieder sehr viel gebracht, und die Freude war bei uns, wie auch bei den Eltern vollkommen. Die Weihnachten vor meinem Schulantritt bekam ich noch eine Schiefertafel, eine Schachtel mit bunten Griffeln und das erste Lesebuch, Am Morgen des ersten Weihnachtstages ging ich dann immer mit schwerem Herzen zu meinem Paten, um zu fragen, ob das Christkind zu ihm auch etwas für mich gebracht habe. Der Pate sagte dann in ganz ernstem Ton "Na Jong hei wor ka Christkindge". Ich glaube noch heute diese Enttäuschung zu fühlen. Der Pate war ja sonst gut, aber sein Gebaren war ziemlich schroff und rau, denn er hatte selbst nie Kinder gehabt. Wenn ich mich dann , dem Weinen nahe, zum Gehen wandte, dann sagte er gewöhnlich "Ei wort emol Jong ich will emol in der Kammer guke obs do vielleicht wos hingelagt hott". Dann brachte er doch noch aus der Kammer in ein buntes Taschentuch eingepackt, Äpfel und Nüsse und in Papier eingeschlagenen Stoff zu ein paar Hosen. Den Stoff zu einer Hose habe ich alljährlich vom Paten erhalten, bis zu meinem 14. Lebensjahr, mit dem die Patengeschenke aufhörten. Die Hose von diesem Stoff nähte die Mutter selbst und mußte dann halten bis zum nächsten Jahr, und war die einzige Hose für Sonntags und Werktags. Wenn sie einmal zu schmutzig oder zerrissen war, dann wurde sie gewaschen und geflickt. Im Übrigen trugen wir Leinenkittel die unsere Mutter auch selbst nähte. Auf beide Ärmel und beide Schultern setzte sie dann noch weiße Litzen. Das sah sehr schön aus. Dazu noch eine Schirmmütze und ein bunt geblümtes Halstüchle. Die Schuhe wurden von einem Dorfschuster nach Maß angefertigt, und rundrum mit starken, in der Mitte mit flachen Nägeln versehen. Das war der Anzug für Sommer und Winter.



Zu Ostern gab es dann, wie heute noch üblich, die bunten Ostereier und zwar 10 - 15 Stück. Also überreichlich viel. Mit diesen Ostereiern zog dann am 1.Osternachmittag, bei schönem Wetter das ganze Dorf, Jung und Alt zum Osterwieschen, wo ein buntes Treiben begann. Das war eine nahe am Dorf etwas schräg gelegene Wiese, wo die ganz kleinen Kinder mit den Eltern kullerten, wir sagten schippeln und die größeren versuchten sich mit dem sogenannten Eiertippen.(Eierkippen?).


Zu Ostern, wenn man 14 Jahre alt geworden war bekam man vom Paten noch das letzte Geschenk, einen großen Wecken in Form einer Frau von dem man noch tagelang essen konnte.


Nun zurück zu meiner Schulzeit.


Als der Tag meines Schulbeginnes am 1.April 1875, den ich mit Sehnsucht und Aufregung erwartet hatte, endlich gekommen war, kam das 7 Jahre ältere Nachbarsmädchen" Jägers Bettche", nahm mich an der Hand, und nahm mich mit zur Schule. Unser Jahrgang waren 5 Jungen und 3 Mädchen. Auf der eine Seite des Schulzimmers saßen die Mädchen, auf der anderen Seite die Jungen. Wir kamen dem Alter nach in die vorderste Bank. Ich war der älteste Junge und kam obenan. Dann kam Julius Bender, Ernst Kunz, Gustav Stoll und Fritz Habicht. Bei der Besetzung der Plätze gab es den ersten Konflikt. Julius Bender war am 12.April, Ernst Kunz am 15.April geboren. Ernst Kunz behauptete, daß er über dem Jul sitzen müsse, weil er am 15. geboren sei und 15 doch mehr sei als 12. Aber es half nicht der Ernst kam mit Geheul auf den 3.Platz.


Unser Lehrer war ein alter Herr, ein Hühne von Wuchs von über 1,90mtr. groß, mit langem weit über die Brust reichendem weißen Bart. Er war sehr streng und dabei offensichtlich ungerecht. Es war allgemein bekannt, daß er die Kinder armer Leute bis zur Mißhandlung züchtigte, und die Kinder der reichen Bauern gar keine Strafen bekamen. Ich habe furchtbare Prügel bekommen, nicht allein für mein eigenes Versagen, sonder auch für Versagen und Antworten meiner jüngeren Brüder, wofür er mich einfach verantwortlich machte. Die Art der Züchtigungen geschah mit roher Gewalt. Er griff sein Opfer mit dem linken Arm auf dem Kreuz, hob es aus der Bank, trug es wie ein zappelndes Kaninchen durch den Mittel -oder Seitengang auf die vordere Bank, griff dann hinter sich und nahm von dem Kreidekasten einen von den dort liegenden Haselstöcken und bearbeitete den Hinterteil bis er schwarz und blau wurde. Zerbrach der Stock dabei, dann mußte der Sünder am nächsten Tag einen neuen mitbringen. Am schmerzhaftesten waren die Schläge mit den Haselstöcken auf die Handfläche. Schwere Tage gab es vor der Frühjahrsprüfung des letzten Jahrgangs. Es war sein Steckenpferd eine Art Parade im Rechnen durchzuführen. Zugegen war dann der Schulinspektor, der Pfarrer und 8 - 10 Lehrer aus der ganzen Umgegend. Hier wurden dann Rechenaufgaben gelöst, die einer Ingenieurschule Ehre gemacht hätten. Ich denke da an meinen Namensvetter Fritz Habicht der ein Künstler im Kopfrechnen war. Mit diesem beschäftigten sich dann einige Lehrer und stellten ihm Aufgaben die er zum Staunen aller löste. Unser Lehrer hat niemals mit uns gelacht, oder Scherze gemacht. Seine Erziehungsmethode wurde viel gerügt aber Niemand ging dagegen an. Er hat mich einmal mit Ohrfeigen bearbeitet, um ein Geständnis von mir zu erlangen, wo ich unschuldig war, daß mir das Blut aus Mund und Nase lief und ich torkelnd an den Brunnentrog am Backhaus ging mich abzuwaschen, und das Wasser rot färbte, Da kam zufällig der Bürgermeister vorbei. Der schimpfte weidlich auf den Unmensch von Schulmeister und wollte ihn anzeigen. Aber nichts hat er getan, auch mein Vater hat es immer beim Schimpfen bewenden lassen. Außer den Schulstunden die Vormittags von 8-12 Uhr mit nur 20 Minuten Pause und nachmittags außer Sonnabend nochmals zwei Stunden dauerten, bekamen wir immer noch Aufgaben oder Aufsätze mit nach Hause, Dabei mußte ich schon früh im Haushalt und auf dem Feld helfen, denn der Vater hatte ja damals noch die Schicht von 6-6 Uhr und unsere Mutter mußte unsere kleine Landwirtschaft mit uns Kindern fast ganz alleine machen, so daß mir kaum einmal ein wenig Zeit zum Spielen blieb. An meine Schulzeit habe ich auch später immer nur mit Erbitterung gedacht. Dies auch wohl mit aus dem Grunde, daß ich von dem was ich in der Schule gelernt hatte in den nächsten Jahren und vielleicht für alle Zukunft keinen Gebrauch machen konnte. Denn bei mir konnte ja damals ein anderer Gedanke, als Bergmann zu werden, gar nicht aufkommen. Nicht einmal bot sich mir die Gelegenheit einen Brief zu schreiben, geschweige denn, das was ich gelernt hatte in irgendeiner Tätigkeit, oder einem anderen Berufe in Anwendung bringen zu können. Erst als ich 27 Jahre alt, mich entschloß die Bergschule zu besuchen, lernte ich über meine doch gute Schulbildung und meinen strengen Lehrer anderst urteilen.


Mit dem 1.April 1883 wurde ich mit dem Zeugnis "Gut" aus der Elementarschule zu Eibach entlassen. Bis dahin hatte ich außer dem Schullesebuch und der Bibel nie ein Buch zu lesen bekommen. Auch bis zu meinem 30. Lebensjahr konnte ich mir kein Buch kaufen und von einer Leihbibliothek wußte man bei uns noch nichts. Mein Großvater las die Zeitung "Berliner Morgenpost" ein freisinniges Blatt, das ich, wenn ich zum Großvater kam lesen durfte. Da interessierte ich mich besonders für die damaligen politischen Auseinandersetzungen im damaligen Reichstag zwischen dem Reichskanzler Bismarck, dem freisinnigen Richter, dem Sozialdemokraten Bebel und dem Zentrumsmann Windhorst. Für diese 4 Politiker ist mir immer eine bestimmte Hochachtung geblieben und ich glaube diese haben auch später würdige Nachfolger nicht mehr gefunden. Ich durfte die Zeitung aber erst lesen, als ich aus der Schule war.


Schon in den ersten Tagen April 1883 ging ich mit meinem Kameraden Gustav Stoll auf eine Grube nahe am Dorfe Eisenstein klopfen. Von 7-10 arbeiteten wir dort und um 11 mußten wir schon in Dillenburg in der Kofirmantenstunde sein. Ich hatte etwas Geschick zu dieser Arbeit, Gustav aber gar nicht. Zum Gustav sagte dann auch ein alter Bergmann, der auch dort Steine klopfte."Jong dau geist seilebe kan Berkmann". Aber Gustav brachte es im Leben mit nur noch 5 anderen im ganzen Deutschen Reich zum staatlichen Bergamtmann. Er war der "Älteste unter 5 Geschwistern und war ein sehr begabter Junge. Der Vater war schon früh gestorben, und die Mutter mit ihren 5 Kindern lebte in bitterer Armut. Gustav kam auf nur kurze Zeit an das Landratsamt und dann zur Berginspektion Dillenburg als Schreiber. Der damalige Leiter der Berginspektion interessierte sich bald für ihn, und half ihm zum Besuche der Bergschule. Er hatte sich so entwickelt, daß es ihm gelang mit eigener Kraft ein Salinenwerk in Bleicherode nach seinen selbst entworfenen Plänen aufzubauen. Gustavs 1 Jahr jüngerer Bruder hatte Schmied gelernt und mußte die ganze Familie mit schwerer Arbeit allein ernähren. Auch dieser fing mit dem Alter von 26 Jahren noch an sein Leben ganz selbständig umzugestalten. Er besuchte noch eine Maschinenbauschule und hat später selbständig Seilbahnen gebaut, sowohl im Inland, wie im Ausland. Auf diesen Heinrich Stoll, mit dem sich auch mein Leben später in treuer Kameradschaft verband, komme ich im Nachfolgenden noch zu sprechen. Ich erwähne hier diesen beiden Beispiele nur, um meinen Nachkommen zu illustrieren, wie der Mensch, selbst aus den ärmsten Verhältnissen heraus, mit Energie und Fleiß es im Leben zu etwas bringen kann.


Wie schon angedeutet mußten wir nach Dillenburg zum Konfirmantenunterricht gehen und wurden dort am 5.Mai 1883 konfirmiert. Aus diesem Anlaß ging mein Vater in der Woche vorher mit mir nach Dillenburg, um den Konfirmationsanzug zu kaufen. Der dunkle Anzug bestand aus Jaket, Weste und Hose, und dazu eine Schirmmütze und ein dunkles Halstüchle. Das kostete damals zusammen nur ca 50.-Mk. Das war an den heutigen Preisen gemessen gewiß nicht viel, aber an dem Verdienst meines Vaters von vielleicht 60-65 MK doch ungeheuer viel, und mußte in Ratenzahlungen abgetragen werden. Auch ein Paar Sonntagsschuhe, die ersten in meinem Leben, wurden noch gekauft. Auf diese Ausstattung war ich sehr stolz. Zur Konfirmation in der Kirche zu Dillenburg ging nur mein Vater mit, denn die Mutter mußte ja bei meinem 1/2 Jahr alten Schwesterchen bleiben. Zu Mittag gab es dann zu Hause zur Feier des Tages ein besonders schönes Mittagessen und Nachmittags Kaffee und Kuchen damit war die Konfirmation gehalten.


Auf meine Einstellung auf Grube Beilstein als Aufbereiter mußte ich warten bis zum 6.Juni 1883. Ich verdiente dann den ganzen Monat Juni noch 12,40 MK. Das war an den heutigen Verdienstmöglichkeiten gemessen gewiß nicht viel, aber ich war stolz darauf und meine Mutter war froh, als ich ihr 4 blanke Thaler übergeben konnte. Bis dahin hatte ich auch nie einen anderen Gedanken gehabt als Bergmann zu werden wie mein Vater. Ich war mir ja auch bewußt, da wir arme Leute waren, und daß es für mich gar nichts Anderes geben konnte, als Geld zu verdienen und meinen Eltern zu helfen. Eine Möglichkeit einen anderen Beruf zu ergreifen, oder gar eine bessere Schule zu besuchen, kam gar nicht in Frage. Die Arbeit auf der Halde war recht schwer, sie bestand aus Schaufeln, Karren fahren und Eisenstein klopfen und reinigen. Ich war damals noch verhältnismäßig klein und schwach, aber immer von einiger Ausdauer. Der Arbeitsanzug war recht dürftig. Er bestand aus Hose und Jaket aus blauem sogenanntem eisenfesten Stoff. Die Arbeit wickelte sich im Freien ab. Bei Regen und Schnee hing man sich einen alten Sack über die Schulter und Rücken. Einen Mantel oder gar wasserdichten Anzug gab es nicht. Mein Vater verdiente damals nur ca.60.- bis 70.-Mk. Im Monat und ich brachte es im Laufe der Zeit auf 30-35 Mk. Das reichte natürlich nicht für unsere Familie. Unsere kleine Landwirtschaft, aus der wir wohl für 5-6 Monate unser Brot zogen brachte Bargeld nicht ein. Im Gegenteil, dieselbe war bei der damaligen Huflewirtschaft(?) unrentabel und verlangte nicht unerhebliche Zuschüsse. Ich glaubte mehr verdienen zu müssen und zu können, und ging im Herbst 1884 zu der Firma "Burger Eisenwerk" auf die Grube "Auguststollen" als Aufbereiter mit meinem 2 Jahre älteren Freund Peter Thomas. Das war ein Weg von über 1 1/2 Stunde über zwei Berge, die immer bei dunkler Nacht hin und zurück zu laufen waren, denn bei Tagesgrauen war man dort und bei eintretender Dämmerung war Feierabend. In der Woche vor Weihnachten wurde mein Kamerad Peter krank. Am zweiten Weihnachtsabend erreichte mich inmitten einer frohen Gesellschaft die Nachricht, daß mein Freund Peter gestorben war. Tief erschüttert und weinend ging ich nach Hause und spürte zum erstenmal in meinem Leben, wie bitter weh es tun kann einen guten Freund für immer zu verlieren. Eine Lungenentzündung hatte meinen guten, in Gesundheit strotzenden Kameraden, in nur wenigen Tagen dahingerafft. Es war mir dann auch nicht mehr möglich allein unseren seither gemeinschaftlichen Arbeitsplatz auf dem Auguststollen weiter zu besuchen. Am 1.Januar 1885 wurde ich auf Grube Beilstein wieder aufgenommen. Mit Vollendung des 16.Lebensjahrer wurde ich als Schlepper für Untertage vorgemerkt. Im Monat April 1885 stürtzte ein schon verheirateter Fördermann aus Weissenbach, in ein 30 mtr tiefes Absinken und war sofort tot. Dadurch wurde eine Fördermannstelle frei und ich bekam den Bescheid am selben Abend auf Nachtschicht einzufahren. Mein Vater der gerade Nachtschicht hatte mußte mich mit in die Grube nehmen, und mir meinen Arbeitsplatz zeigen. Ich mußte auf dem selben Absinken in das der Schlepper des Mittags abgestürzt war einen Handventilator drehen, den auf der 30 mtr tieferen Sohle arbeiteten Hauern frische Luft zuführen sollte. Ich habe wohl in dieser Nacht mehr den Ventilator gedreht als notwendig gewesen wäre. Denn vor mir war das dunkle Loch, in das vor wenigen Stunden der Fördermann gestürzt war, und um mich herum, bei einer spärlichen Rüböllampe, dunkle Nacht, und nirgends eine Menschenseele. So war denn das Rattern meines Ventilators die beste Ablenkung vor einem stillen Grauen. Mein Peter wird sagen: Da hat aber der Großvater Angst gehabt! Aber wie wird sich mein Peter in dieser Situation benommen haben? Nach einigen Wochen wurde ich schon in die eigentliche Förderkolonne eingeteilt. Das waren die Schlepper die mittels Förderwagen aus den verschiedenen Abbaustollen den Eisenstein holten und zum Hauptförderschacht brachten. Das waren alles junge kräftige Burschen von 17 - 19 Jahren. Auch wurden diese Schlepper damit beschäftigt aus den Absinken zur nächsten tieferen Sohle das gewonnene Material mittels Handhaspel herauszuholen. Die letztere Arbeit die in Gedingen ausgeführt wurde, habe ich um mehr Geld zu verdienen ein ganzes Jahr lang gemacht. Da mußten jede Schicht 20 Wagen a 4 Kübel gefüllt werden. das war eine sehr schwere, alle nur vorhandenen Kräfte beanspruchende Arbeit. Mit 19 Jahren nahm mich mein Vater mit ins Gedinge als Lehrhauer vor eine Feldortstrecke im Tiefbau. Hier lernte ich das Handbohren, gleichzeitig aber auch nochmals eine aus früheren Zeiten übernommene Karrenförderung. Da ja in der neuen Tiefbaufeldortstrecke noch keine Wagenförderung auf Schienengeleise bestand, mußte der mittels Sprengung gebrochene Eisenstein mit Karren zum Füllort gebracht werden. Hierzu dienten zwei Holzkarren, 2 Fülltröge und zwei Kratzen. Zwei Mann zerkleinerten die starken Brocken und füllten den Karren. Der Dritte, das war ich, war mit einer starken Ledergurte bewaffnet. Sobald der Karren befüllt war, nahm ich die Gurte über den gebückten Rücken, stülpte die beiden Gurtenden über die Karrenbäume, hob den Karren mit dem Kreuz hoch, stützte die Hände auf den Karren und fort gings, mit der Öllampe vorn am Karren, zum Füllort. Wenn ich mit dem leeren Karren zurückkam war der zweite Karren gefüllt. So ging es weiter solange wie noch Material vor Ort lag. Am ersten Tag merkte ich schon ein Stechen im Kreuze, ein Zeichen, daß durch den Druck des Riemens, der nicht richtig aufgelegen hat, und den Schweiß, die Haut weg war. Das war dann noch zu ertragen. Aber der Anfang der nächsten Schicht war schlimm. Schon beim ersten Karren rissen die Schorfe auf dem wunden Rücken wieder auf, und das war ein fürchterlicher Schmerz, bei dem so heimlich die Tränen die Wangen runter liefen. Trotzdem gab ich nicht zu, daß mich mein Vater ablöste. Zu Hause wurden die wunden Stellen mit den damaligen Allheilmitten Öl und Arnika behandelt. Nach ca.8 Tagen wurden die Stellen im Rücken hart und das Sattelfahren war gelernt, wenn auch immer noch kein Vergnügen. Diese und manch andere harte Arbeit war der einzige Sport meiner Jugend. So habe ich dann weiter bis zu meinem vollendeten 21.Lebensjahr alle im Erzbergbau vorkommenden Arbeiten als Lehrhauer kennen gelernt. Dann meldete ich mich zur Prüfung als Hauer. Diese Prüfung dauerte ca.8 Tage in denen man von einem Abteilungssteiger jeden Tag eine bestimmte Arbeit zugewiesen bekam, die dann auch von diesem kontrolliert und geprüft wurde. Diese Prüfungsmethode war das sogen. Steckenpferd des damaligen Leiters der staatlichen Bergwerke, des Oberbergrats Fuhrmann, späteren Geheimrats am Wirtschaftsministerium in Berlin, und wurde auf Privatgruben gar nicht geübt. Später fiel dieselbe auch auf den Staatsgruben fort, und heute wird der Bergmann nach einer bestimmten Zeit untertägiger Beschäftigung, einfach zum Hauer befördert. Ich bestand diese Prüfung gut und unternahm es von dieser Zeit ab gleich als Gedingungsträger aufzutreten. An jedem 1.eines Quartals wurden sämtliche Arbeiten zu einem von der Verwaltung festgesetzten Akkordsatz, öffentlich ausgeboten. Da konnte man oft noch die traurige Erscheinung beobachten, daß die von der Verwaltung ausgebotenen Gedingesätze, trotz der damals sehr geringen Löhne, von einigen Kumpels noch unterboten wurden. Inzwischen war ich, mit Vollendung des 20. Lebensjahres zum Militärdienst gemustert und ein Jahr zurückgestellt worden. Im nächsten Jahr wurde ich abermals zurückgestellt. Mein Bruder Wilhelm wurde gleich als tauglich zur Feldartillerie ausgemustert. Meine abermalige Zurückstellung war für mich ein so deprimierendes Gefühl, daß mir das Weinen nahe war. Denn wer damals nicht Soldat wurde war gesellschaftlich auch bei den jungen Mädchen unmöglich. Im dritten Jahr wurde ich dann doch zur Infanterie ausgemustert und kam nach Mainz zum Infanterieregiment No.88. Dort in Mainz diente bereits mein jüngerer Bruder als Artillerist.


In dem Sommer vorher lernte ich ein Mädchen kennen, mit dem ich mich von da ab in Gedanken viel beschäftigen mußte, und das in meinen Zukunftsträumen und Plänen immer eine gewichtige Rolle spielen sollte.


Der Militärdienst wurde mir nicht allzuschwer, wenn es auch oft recht hart herging. Ich war ja Strapazen gewöhnt und habe nie schlapp gemacht. Mein Korporalschaftsführer und der Kompanieleutnant hatten wohl unserem Kompanie-Chef die Meinung beigebracht, daß ich kapitulieren würde. Das hatte zur Folge, daß ich am Schlusse des zweiten Dienstjahres zu meinem großen Verdruß nicht zu denen gehörte die zur Disposition nach Hause entlassen wurden. Ich erklärte meinem Feldwebel, daß ich trotzdem nicht kapitulieren würde. Der Feldwebel hatte dies wohl dem Hauptmann mitgeteilt, der mich dann zu sich rufen ließ. Er gab mir viele gute Worte, um mich doch noch umzustimmen. Ich blieb fest und als er das sah, da sagte er, wenn sie dann absolut nicht wollen, dann haben sie freilich nicht verdient 3 Jahre zu dienen. Er gab mir die Hand und entließ mich mit guten Wünschen. In ganz kurzer Zeit hatte ich den Bescheid, daß ich am nächsten Tag entlassen würde. Mein Kamerad Baldus wurde auf der Abgangsliste wieder gestrichen und ich ging nach Hause. Unser Jahrgang war der Letzte der 3 Jahre dienen mußte. Von da an war die zweijährige Dienstzeit Gesetz geworden. Am 26.September kam ich wieder zu Hause an. Da lagen noch überall auf den Wiesen und Viehweiden der Hafer und Grummet zum Trocknen. Durch eine lange Regenperiode von Mitte Sommer ab, war fast die ganze Ernte des Jahres verdorben. Ich meldete mich sofort wieder als Bergmann und fuhr am 1. Oktober als Hauer auf Grube Königszug wieder an. Im nächsten Frühjahr schon heiratete mein Bruder Wilhelm und mein jüngster Bruder Heinrich mußte im Herbst auch zum Militär. Für mich begann neben meiner Schicht auf der Grube eine sehr harte Arbeit in unserer kleinen Landwirtschaft. Meine Mutter wurde ernstlich krank und konnte nicht einmal ihre Hausarbeit verrichten. Ich habe dann oft, wenn ich des Abends um 11 Uhr von der Grube kam, noch das Vieh füttern und die Kühe melken müssen. Als es meiner Mutter wieder besser ging und sie ihre Hausarbeiten wieder machen konnte, habe ich um Geld zu verdienen bei den Bauern, neben der Schicht und neben unserer eigenen Landwirtschaft, im Heumachen helfen Mähen und im Herbst geholfen die Dreschmaschine drehen usw.


Um 11 Uhr abends kam ich von der Schicht nach Hause und vor 7 Uhr des anderen Morgens stand ich bereits wieder an der Dreschmaschine bis 12 Uhr, und um 1 Uhr war ich wieder auf dem Wege zur Grube. Oder im Heumachen um 11 Uhr nach Hause gekommen, wurde ich um 2 Uhr schon wieder zum Mähen geweckt. Auch dieser Nebenverdienst war damals sehr gering. Aber ich konnte mir doch etwas sparen, was mir nachher sehr zu Gute kam, diese menschenunwürdige Schinderei ging so weiter, bis im Frühjahr 1897, bei mir und meinem Freund Heinrich Stoll, der ebenso schwer arbeiten mußte, fast plötzlich der Vorsatz durchbrach, dieses Leben nicht mehr so weiter zu führen. Die Durchführung unseres Vorhabens war uns jedoch in Bezug auf die finanzielle Seite noch vollständig unklar. Ich ging am nächsten Tage zu dem damaligen Schullehrer in Eibach, und meldete mich und meinen Freund Heinrich zum Privatunterricht an. Mein Bruder Heinrich war ja inzwischen wieder vom Militär abgegangen, sodaß mir unsere Wirtschaft zu Hause noch weniger Sorge machte. Ich meldete mich sofort auch für die Zeichenschule in Dillenburg an, die ich von da an allsonntäglich besuchte. Der Vorsatz mein Leben anderst zu gestalten hatte auch mit darin seinen Grund, daß ich meiner Angebeteten, mit der ich all die Jahre die Verbindung aufrecht erhalten hatte, und die schon ein paar Jahre in Frankfurt war, nicht zumuten wollte eine einfache Bergmannsfrau zu werden. Ich meldete mich im Laufe des Sommers zur Aufnahme in die Hauptbergschule in Dillenburg. Meine Sorgen waren in pekuniärer Beziehung, keine geringen. Mein Vater billigte mein Vorhaben gar nicht, und war recht unzufrieden mit mir. Er konnte mir ja auch finanziell gar nicht helfen. Seine größte Sorge war aber, daß ich überhaupt die Fähigkeit hätte die Bergschule mit Erfolg zu besuchen. Er hatte mir ja während meiner Schulzeit nie geholfen, und auch nicht zu helfen brauchen. Ehe ich zur Bergschule ging hatte ich mich mit meiner Angebeteten fürs Leben versprochen. Im Laufe der letzten Jahre hatte ich mir mit den vorgeschilderten Nebenarbeiten 100.-Mk erspart und mein anderer Freund Heinrich Jung leihte mir noch 200.-Mk. Ich mußte ja für die Schule noch manches anschaffen. Eine Bergschüler Uniform, einen Mantel, -den ersten für mein Leben -, einige Bücher und manches Andere. Meine Aufnahmeprüfung im September bestand ich mit Leichtigkeit. Am 1.Oktober 1897 begann die Schule. Ich merkte bald, daß ich ganz gut mitkam. Wenn ich feststellte, daß mir etwas unklar blieb, dann habe ich mich abends zu Hause dabei gesetzt und gearbeitet, sehr oft bis 12 Uhr und noch länger bis mir die Sache geläufig wurde. Arbeiten mußte ich zu Hause bei einem ganz primitiven Petroleum-Stehlämpchen, denn damals gab es in Eibach noch kein elektrisches Licht. Wir hatten 4 mal auch nachmittags noch ,Unterricht, darunter 1 mal in Markscheidt und einmal in Probierkunst (Chemie). Auch manchmal arbeiteten wir mit dem Markscheider auf einer Grube außerhalb Dillenburgs. In diesen Tagen mußte auch irgendwo zu Mittag gegessen werden. Ich sah dann auch bald mein bißchen Geld ganz bedenklich schrumpfen. Wenn mir Herr Bergrat Fliegner, der damalige Leiter der Berginspektion zu dessen Elitetruppe ich auf den Schelder Gruben gehört hatte, nicht zu 15.- Mark Stipendium monatlich verholfen hätte, dann hätte ich schon geldlich gar nicht durchhalten können. Im Frühjahr 1898 mußten wir dann den vorgeschriebenen praktischen Kursus antreten. Jeder mußte während 6 Monaten mindestens auf zwei verschiedenen Gruben arbeiten, und standen unter Aufsicht des jeweiligen Bergrevierbeamten, bei dem man sich erst vorzustellen hatte, wenn man seine Arbeit antreten wollte. Ich wählte ein Blei und Blenderzbergwerk, die Grube Bliesenbach, mit einer größeren Aufbereitungsanlage für das 1. Vierteljahr, im Bergrevier Köln und für das 2. Vierteljahr die Kohlenzeche "Nordstern" im Bergrevier Recklinghausen. Als Probearbeit bekam ich die Aufgabe die Aufbereitungsanlage der Grube Bliesenbach zu beschreiben und zu zeichnen. Das mußte neben der täglichen Arbeitsschicht unter Tage geschehen.


Am 1.April 1898 fuhr ich mit der Bahn über Siegburg-Ehreshofen bis Lope, einer Station vor Engeskirchen, und meldete mich noch an demselben Tage bei der Betriebsleitung der Grube Bliesenbach. Schon am nächsten Morgen stellte ich mich zur ersten Schicht. Hier erlebte ich gleich meine erste Enttäuschung, die mich sehr deprimierte und mich persönlich aufs tiefste erregte und kränkte, und ich will sie auch hier in meinen Erinnerungen nicht unerwähnt lassen. Als der Reviersteiger bei Schichtbeginn den Schalter zum Mannschaftsraum öffnete sprach einer aus der Belegschaft ein Gebet mit allen katholischen Zeremonien, denn dort war alles katholisch. Dann fing der Steiger an die Anwesenheit seiner Belegschaft durch namentlichen Aufruf festzustellen. Als er den Namen Franck aufrief sagte er, "Franck hier ist ein Bergschüler den nehmen Sie mit". Da fing dieser Franck an, inmitten der ganzen Belegschaft, unter Gebrauch von allen erdenklichen Flüchen, zu schimpfen, und sagte, ich verdiene schon nichts bei meinem Gedinge, und nun soll ich auch noch einen Bergschüler durchschleppen. Ich sagte vorläufig nichts, und suchte mir als es zur Einfahrt ging meinen Franck auf und trippelte hinter ihm her in den Stollen hinein, wobei er immer noch knurrte und mich keines Wortes würdigte. Vor Ort angekommen legte er mit noch 1/2 Dutzend Kameraden, die nicht weit davon ihre Arbeitsplätze hatten, vor einem freien trockenen Raum die Brotbeutel und die Kaffeekanne ab, um hier auch noch kurze Minuten zusammen zu plaudern, da nahm ich mir den Mut bei der ganzen Gesellschaft Franck anzureden. Ich sagte: Kamerad Franck Sie müssen ja mit Bergschülern schon sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Er meinte: Ich bringe ja hier in dem festen Gestein selbst kaum ein Bohrloch herunter. Da sagte ich im Beisein der anderen Kameraden: Kamerad Franck! Für jeden Zoll den Sie mehr bohren als ich, zahle ich Ihnen 3.-Mark. Das sagte ich, ohne daß ich damals auch nur über 1,-Mk verfügt hätte. Es gab unter den anderen Kumpels einige lächerliche Mienen. Aber schon während der ersten Schicht wurde mein Franck ganz munter und gesprächig. Wir wurden ganz gute Kameraden. Aber nicht einmal hat er sich 3,-Mk verdienen können. Ich habe ihm sogar immer die schwersten Arbeiten abgenommen. Aber das Gedinge war tatsächlich gering, sodaß trotz allen Fleißes der Monatsverdienst ein knapper blieb. Der Verdienst blieb auch in den nächsten beiden Monaten gering, so daß mir nach Bezahlung für Kost und Logi nur soviel übrig blieb, daß ich die Kosten für meine Reise nach Westfalen am 1.Juli soeben decken konnte, Meine, von der Schule aufgegebene Probearbeit hatte ich neben der Schicht unter Tage fertiggestellt, und bekam später die Zensur "Die Arbeit ist gut". Mein Tagebuch, das auch geführt werden mußte wurde von der Betriebsleitung bestätigt.


Am 1.Juli 1898 fuhr ich über Köln, Essen nach Horst-Emscher und meldete mich dort bei der Direktion der Zeche Nordstern zur praktischen Arbeit im Kohlen-Tiefbau. Meine erste Arbeit begann auf der 600 mtr Tiefbausohle in einem Bremsberg-Aufschauen(?) mit Wetterführung in 8 mtr. Breite. Das Kohlenflöz war dort nur 1 mtr. breit und hatte 30 Grad einfallen. Hier konnte man nur in gebückter Stellung, oder auf den Knien mit der Kohlenschaufel die losgebrochenen Kohlen an den Bremsberg befördern. Bei 25° Wärme nur mit einer Leinenhose bekleidet lief der Schweiß mit dem Kohlenstaub in Strömen am nackten Körper herunter. Auch hier wollte und habe ich meinen Mann gestanden, war aber bei Schichtschluß vollständig erledigt. Hier habe ich den Kumpel im Kohlenbütt, ob seiner Zähigkeit und Leistung bewundern und schätzen gelernt, und sah ein, daß sein Beruf gegenüber allen anderen Berufen, die höchsten Anforderungen an Arbeitskraft und Gesundheit stellt. Im Verlauf der 3 Monate lernte ich noch viele Arbeitsmethoden und Einrichtungen, wie sie im Steinkohlenbergbau vorkommen, kennen. Auch bin ich oft mit dem Wettersteiger gefahren an den verschiedenen Brennpunkten die Wetter zu messen. Mein Logi in Emscher war recht gut. Aber gemessen an meinem Verdienst war das Logi für mich zu teuer, was auch dann dazu führte, daß ich entgegen meinem Wollen und meiner Hoffnung nur soviel gespart hatte, daß ich ohne Schulden wieder nach Hause kam.


In den ersten Tagen Oktober 1898 begann in Dillenburg wieder die Schule, und es galt nunmehr im letzten Halbjahr die Fächer der I.Klasse noch mit Erfolg zu bewältigen. Daß mir das noch voll gelungen war bewies mein Abgangszeugnis am 1.April 1899., in dem bescheinigt war: "A. Habicht wird als gut befähigt zu den Diensten eines Steigers oder Betriebsführers entlassen". Ich war einer der wenigen denen gleich die Befähigung zum Betriebsführer zuerkannt wurde. Als ich dann zu Hause meinem Vater mein Zeugnis vorlegte, konnte ich in seinen Augen eine freudige Überraschung feststellen.


Leider hatten meine Bemühungen um Anstellung, schon ab 1.April, bis dahin noch keinen Erfolg gehabt. Ich fuhr dann sofort wieder als Hauer auf meiner früheren Grube Königszug im Scheldethal an, und arbeitete dort noch die Monate April - Juni. Auf eine Annonce in der Fachschrift "Der Kompaß" meldete ich mich, und erhielt von Frankfurt aus die Aufforderung mich dort persönlich vorzustellen. Ich fuhr nach Frankfurt und bekam dort den Bescheid, daß ich noch näheren Bescheid erhalten würde. Es handelte sich um eine Stellung in Afrika. Bei dieser Gelegenheit besuchte ich meine Angebetete die in Frankfurt in Stellung war. Meine Frage: Ob sie auch mit mir nach Afrika gehen würde, beantwortete sie ohne Bedenken mit ja. Inzwischen wurde mir aber eine Steigerstelle im Rheinland bei der Gewerkschaft "Wildberg" zum Antritt am 1.Juli zugesagt. Ich zog dann meine Werbung nach Afrika zurück. Bevor ich meine Stellung im Rheinland antrat verlobte ich mich offiziell mit meiner Auserwählten der Susanne Hänche aus Niederscheld, am 6.Juni 1899, und kauften zusammen in Dillenburg unsere Trauringe. In den letzten Tagen Juni fuhr ich dann nach Wildberg und verfügte damals außer meinem Fahrgeld über keinen Pfennig. Zu Wiehl besuchte ich noch erst einen alten Freund aus meinem Heimatort, der dort als Steiger angestellt war. Dieser borgte mir damals noch 20.-Mark, damit ich wenigstens noch etwas Geld bis zum 1.Gehaltsempfang in der Tasche hatte. Mein Anfangsgehalt auf Grube Wildberg betrug, den damaligen Gehaltssätzen entsprechend, nur 95.-Mark monatlich, wovon die Kassenbeiträge noch gekürzt wurden. In dem einzigen Gasthaus in Wildberg logierte ich mich ein, so daß ich nur wenige Schritte bis zum Schacht hatte. Das Logi war billig und gut. Der Direktor, der Betriebsführer und die anderen Steiger, außer einem älteren Herrn der die Tagesanlagen beaufsichtigte, waren alle fanatisch katholisch, wie auch der größte Teil der Belegschaft und die Ortsbewohner. Meine Steiger-Kollegen waren ältere Angestellte ohne Bergschulbildung. Der Generaldirektor Rötzel mit dem Sitz in Köln war derselbe dem auch die Grube Bliesenbach, auf der ich im Jahr zuvor 3 Monate praktizierte, unterstand. Ich merkte, daß ich zunächst recht kritisch beobachtet wurde. Da ich aber meinen Aufgaben gewachsen war, und ich daher auch Niemand fragte, oder zu fragen brauchte, war das Eis schnell gebrochen. Zuerst hatte mich wohl Herr Direktor Ferdinand erkannt und anerkannt. Mit dem Betriebsführer Wilhelmie, dem ich anscheinend zu selbsständig war, blieb es die ganzen 5 Jahre ein kaltes Verhältnis, das dann auch mitunter zu Zusammenstößen führte. Herr Direktor Ferdinand bestellte mich dann auch öfters heimlich in seine Wohnung, um mit mir die Betriebspläne zu besprechen. Er unterstützte auch mein von Anfang an geäußertes Bestreben, weiter zu kommen, weitgehend. Er entsprach auch meinem Wunsche mich auf kaufmännischem Gebiete weiterzubilden, und beschäftigte mich, neben meiner 8 stündigen Schicht unter Tage, noch 4 Stunden in der Buchhalterei. Hierdurch verbesserte ich auch etwas mein Einkommen. Da ich die Absicht hatte sobald wie möglich zu heiraten, wurde in einem früheren Fabrikgebäude auf Widbergerhütte für mich eine Wohnung hergerichtet. Am 24. Mai 1900 wurden wir in der Kirche zu Niederscheld getraut. Mein gute Sanni hatte inzwischen für alles gesorgt, was zu einem Haushalt gehört und bereits nach Wildbergerhütte abgesandt. Am Abend unseres Hochzeitstages übergab sie mir noch 300.-Mk in Goldstücken, die sie sich außerdem in Frankfurt noch gespart hatte. Soviel Geld hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht zusammen gesehen. Am 2.Tage nach unserer Hochzeit nahmen wir Abschied von unserer Heimat und unseren Lieben. Die Endstation unserer Reise war Morsbach. Hier kauften wir uns noch einen Küchenherd, eine Nähmaschine und einiges Andere. Diese Sachen gingen sofort mit Fuhre nach Widbergerhütte ab. Wir beide gingen zu Fuß über Berg und Thal nach unserer neuen Heimat, wo wir auch bereits schon unsere anderen Sachen, die von Niederscheld abgesand waren, antrafen. Unsere Wohnung, die aus 3 geräumigen Zimmern und einer Küche bestand, war bereits fertig. Nur die Haustür fehlte noch. Die Wohnung lag im ersten Stock. Nun gings an das Auspacken und Einrichten. Da mußte ich staunen, was meine junge Frau, eine für meine Begriffe reichhaltige Aussteuer zusammengetragen hatte. Und doch blieb noch so Vieles was wir noch beschaffen wollten und mußten. Auch die Restschulden die ich mitbrachte, sollten aus dem geringen Einkommen noch bestritten werden. Aber wir hatten Mut und waren restlos glücklich Schon nach 3 Wochen wurde ich zu einer Landwehrübung nach Trier eingezogen und mußte meine junge Frau in dem großen Hause allein lassen. Das war weniger schön, und machte mir einige Sorgen. Aber tapfer, wie sie in ihrem ganzen späteren Leben war, hat sie auch diese 14 Tage ohne Furcht durchgehalten.


Am 7.Oktober 1901 wurde unser erstes Kind geboren. Es war ein Mädchen. Wie das kleine Mädchen in seinem von der Mutter hergerichteten, mit Spitzen und Bändern verzierten Himmelsbettchen lag war unser Glück unbeschreiblich. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten, das mußten wir bald erfahren. Schon nach 18 Tagen traf uns der erste furchtbare Schicksalsschlag in unserem Leben. Meine liebe Sanni wollte gar nicht recht froh werden, wie ich es sonst an ihr gewohnt war. Ich merkte das wohl, aber wenn ich sie fragte, dann fehlte ihr nichts. Eines Morgens sah ich jedoch, daß sie weinte, und da mußte sie mir ihre Beschwerden gestehen. Ich ging zur Grube und rief von dortaus den Arzt in Eckenhagen an. Dann fuhr ich schnell einmal durch die Grube, ließ mich ablösen und ging wieder nach Hause. Dort begegnete mir schon der Arzt im Flur unserer Wohnung, und schimpfte was er konnte über die Behandlung durch meine Frau. Er sagte mir dann kurz: "Ihre Frau muß innerhalb 24 Stunden operiert werden sonst ist sie verloren." Sie können Sie in eine Klinik bringen, aber wenn sie mir das Vertrauen schenken, dann kann ich sie auch in meinem Krankenhaus in Eckenhagen operieren. Nun wohnten wir drei Stunden von der nächsten Bahnstation und der Postwagen fuhr an diesem Tage nicht mehr nach Morsbach, um von da aus vielleicht noch Nachts nach Gießen zu kommen. Wir mußten uns zu dem Arzt in Eckenhagen entschließen, wiewohl wir wenig Vertrauen in seine ärztliche Kunst hatten. Er hatte ja auch in der dortigen Gegend einen ganz guten Ruf. Ich rief dann zunächst den evang.Pastor in Odenspiel an und bat ihn um die sofortige Taufe unseres Kindes. Am frühen Nachmittag wurde unser Kind auf den Namen Elisabeth getauft. Nachdem dann alles mit unserem Malchen, die damals zum Glück bei uns zu Besuch war, besprochen war, nahmen wir Abschied von unserem Kinde und fuhren zusammen in einer Kutsche zum Krankenhaus in Eckenhagen. Dort gab mir der Arzt den Auftrag in jeder Stunde der Nacht die Klingel an seinem Hause zu ziehen, und ihn zu wecken. Als ich um 1 Uhr des Nachts wieder weckte, und ihm wieder Bescheid gab, daß sich der Zustand meiner Frau nicht geändert habe, da sagte er mir, oben im Fenster stehend, kurz: Laufen sie nach Derschlag und sagen Sie meinem Kollegen, der Ihnen im Wagen begegnen wird, er brauche nicht zu kommen. Er machte das Fenster zu, ohne mir zu erklären, was los, oder warum der Arzt aus Derschlag, den er doch wahrscheinlich zum assistieren bei der Operation bestellt hatte, nun nicht kommen sollte. Ist es nun zu spät? Muß meine Frau sterben? Das waren die Fragen mit denen ich in stockdunkler Nacht am Doktorhause stand, und mich wie Keulenschläge trafen. Ich ging zurück und sagte meiner Frau diesen Bescheid. Dann begab ich mich auf die Straße nach Derschlag einen 3 Stunden weiten Weg, den ich nie gegangen und der vereist und verschneit war. In den ersten Häusern Derschlags sah ich die Laternen eines Kutschwagens blinken. Ich hielt das nähergekommene Gespann an, und gab meinen Bescheid an den Insassen des Wagens ab, der tatsächlich der bestellte Arzt war. Der Wagen drehte um, und ich lief meine 3 Stunden wieder zurück nach Eckenhagen. Im Laufe des Vormittags erfuhren wir dann was los war. Es hat sich gar nicht um einen eingeklemmten Bruch gehandelt, sondern um ein Geschwür in der Leistengegend, das sich durch die Unvorsichtigkeit der Hebamme dort gebildet hatte. Den Druck des Arztes auf dieses Geschwür, um den angeblich eingeklemmten Bruch wieder beizudrücken, konnte meine Frau natürlich nicht aushalten und hatte in ihrer Abwehr mit einem Fußtritt den Arzt an die Wand geschleudert. Daß ihm sowas noch nicht passiert war, wie er sich ausdrückte, als er mir damals im Flur begegnete, war eigentlich schade, sonst hätte er wahrscheinlich schon früher den Unterschied zwischen einem eingeklemmten Bruch und einem Geschwür feststellen gelernt, und meine Frau wäre nicht das Objekt seiner Kunst geworden. Ich lief nun täglich neben meiner Schicht nach Eckenhagen, um meine Frau über das Befinden unseres Kindes zu informieren, das uns noch große Sorgen machte, weil das Kind ja bis dahin von der Mutter ernährt war, und so plötzlich an die Flasche gewöhnt werden mußte. Aber es ging soweit alles gut. Der Arzt hatte dann am 3. oder 4. Tag das Geschwür geöffnet und unsere Mutter erholte sich bald wieder. Nach 3 Wochen konnte ich unsere Mutter wieder nach Hause holen. Freude und Glück kehrte wieder bei uns ein, und der ausgestandene Schrecken war bald vergessen. Dank der treuen Pflege und Fürsorge unseres lieben Malchens, hatte sich unser Kind prächtig entwickelt, und war unser ganzer Stolz.


Ich konnte mich nunmehr wieder ganz meinem Dienst und meinen Zukunftsplänen widmen, und bewarb mich wiederholt um Stellungen als Obersteiger. Am 1.Juli 1904 übernahm ich die Betriebsführerstelle als Obersteiger bei der Gewerkschaft Constanze in Langenaubach bei Haiger, also in unserer engeren Heimat. Es handelte sich hier um Rotheisenerzbergwerk mit angeschlossenen Kalksteinbrüchen. Mein Vorgänger hier war dem Trunk ergeben gewesen, und daher unmöglich, und fristlos entlassen worden. Der Betrieb war daher im Ganzen vollständig verlottert. Ich mußte mir meine Position, sowohl nach Oben wie nach Unten erst schaffen. Das geschah schon bald in ganz eindeutiger Form. Das Büropersonal das sich in alle Betriebsangelegenheiten eingemischt hatte, und sich weiter einmischen wollte, jagte ich aus dem Betriebe. Der Frau Direktor die zu unserem Werkboten, der mein Büro reinigen und heizen sollte, gesagt hatte, ich könne mir selbst Feuer machen, schickte ich sofort den Boten ins Haus, mit dem Befehl der Frau Direktor zum sagen, daß ich genauso wenig nötig habe mir selbst in meinem Büro Feuer anzuzünden, wie die Frau Direktor. Das besorgte der Bote auf der Stelle, und hat nicht wieder unterlassen mein Büro in Ordnung zu bringen und Feuer anzuzünden, wenn's nötig war. Weder die Frau noch er, der Direktor haben daran mit einem Wort gerührt. Nur später als ich längst nicht mehr in Langenaubach war, und ich geschäftlich und freundschaftlich noch mit Herrn Direktor Vahlensiek verkehrte, sagte mir einmal bei einem Besuch in ihrem neuen Hause in Dillenburg mit lächelnder Miene die Frau: Sie waren doch ein schlimmer Mann. In derselben Form mußte ich mir auch die Arbeiter-Belegschaften zurechtrücken. Da gab es vieles was nicht gefiel. Aber als ich nach 1 1/2 Jahren wieder fortging, da hat dies die ganze Belegschaft bedauert.


Wir hatten dort eine recht angenehme Wohnung in einem Haus der Gewerkschaft nahe an der Grube. Am 1.März 1905 wurde unsere Erna geboren. Unsere kleine Elisabeth war inzwischen schon ein liebes kräftiges Mädel geworden, so daß es uns soweit ganz gut ging. Ich hatte jedoch von Anfang an nicht die Absicht dort zu bleiben, da mich der Grubenbetrieb nicht voll befriedigte, ich auch wenig Aussicht hatte, in Zukunft mein Einkommen wesentlich zu verbessern. Lediglich die Position -Obersteiger und Betriebsführer hatten mich bewogen die hier wenig gut bezahlte Stellung anzunehmen, und dadurch mein Fortkommen wesentlich zu erleichtern. Schon im Sommer 1905 bewarb ich mich um eine Stelle als Betriebsführer auf eine Silbererz führende Blei-und Blenderz-Grube in Niedreschlesien bei Oberkaufung a.d.Katzbach. Ich bekam bald zusagenden Bescheid . Herr Direktor Vahlensiek war über meine Kündigung wenig erfreut. Er meinte aber, er hätte das schon geahnt, daß der Betrieb für mich zu wenig sei, und daß ich diese Stelle lediglich als Sprungbrett benutzt habe. Er schrieb mir aber ein unerwartet schönes Zeugnis, und wir trennten uns schon Ende August 1905. Später habe ich dann noch in Bergwerkssachen mit ihm korrespondiert und ihn noch gelegentlich besucht.


Am 1.September 1905 fuhr ich über Gießen, Kassel, Bebra, Leipzig, Frankfurt a.d. Oder, Liegnitz nach Oberkaufung a.d. Katzbach um meine angenommene Betriebsführerstelle anzutreten. Meine Familie mußte noch einige Wochen zurückbleiben, weil die für uns vorgesehene Wohnung in einem neuen Hause noch nicht fertig war. Ich war die Nacht durchgefahren und kam am 2.9.1905 vormittags in Oberkaufung an. Der Weg zur Grube, den ich mir erfragen mußte, ging ca 3/4 Stunden weit ins Gebirge. An der zur Grube gehörenden Aufbereitung, die im Thale lag, und an einem der beiden zur Grube gehörenden Tiefbauschächte in halber Höhe des Berges, ging ich vorbei, um zum Verwaltungsgebäude zu gelangen. Kurz vor dem Gebäude begegnete mir ein großer schlanker Herr mit goldenem Kneifer auf der Nase im Reitkostüm, Stiefel und Sporen, und in der Hand eine Reitpeitsche. Ich fragte höflich, wo ich wohl die Direktion sprechen könne. Er sagte, der Direktor bin ich selbst. Ich nannte meinen Namen und er den seinen und meinte, dann sind sie wohl unser neuer Obersteiger, was ich bejahte. Dabei überkam mich ein recht banges Gefühl, denn ein Bergwerksdirektor, und bisher auch bergbehördlich bestätigter Betriebsführer, in solcher Aufmachung, das konnte ich nicht begreifen. Es kam mir dann auch plötzlich der Gedanke: Fahre wieder zurück nach Langenaubach, denn hier wirst du keine guten Tage erleben. Ich wurde dann gleich dem Generaldirektor vorgestellt, der mir wieder etwas Mut machte, indem er gleich betonte, daß er vom praktischen Bergbau nichts verstehe und sich ganz auf mich verlassen wolle, und er, wenn ich mich bewähren würde schon bald eine wesentliche Gehaltsaufbesserung eintreten lassen würde. Das geschah dann auch tatsächlich schon ab 1.Oktober, so daß ich schon annähernd das Doppelte verdiente wie in Langenaubach.


Am 3.September fuhr ich mit Direktor Kretschmar auf dem Luisenschacht an. Hier wurden mir die mir unterstellten 5 Steiger vorgestellt. Diese waren alle so ziemlich in meinem Alter und hatten einige von ihnen -dreie hatten ja auch Bergschulbildung- wohl schon auf die Besetzung des Obersteigerpostens gewartet. Ich konnte mir vorstellen, daß ich ihnen nicht sehr willkommen kam, und, daß mir auch in dieser Beziehung einige Schwierigkeiten begegnen würden. Als ich dann aufgrund meiner Zeugnisse schon in den nächsten Tagen von der Bergbehörde als Betriebsführer bestätigt war, habe ich diese erwarteten Schwierigkeiten, die sich bald in stiller Opposition usw. bemerkbar machten, auf meine Methode ausgemerzt. Auch in meiner Stellung gegenüber Herrn Direktor Kretschmar, der wohl Diplom Ingenieur war, aber in praktischen Dingen ziemlich hilflos war, kam es mitunter zu ernsten Differenzen. Da er aber auch mehr Interesse am Spazierenreiten und Säbelfechten mit den studierenden beiden Söhnen des Generaldirektors hatte, störte er mich wenig, und der Betrieb wurde ganz nach meinen Plänen geführt. Nur jeden Abend um 6 Uhr mußte ich dem Generaldirektor in seinem Büro persönlich Rapport erstatten, trotzdem, daß Herr Kretschmar bei ihm in Familienanschluß untergebracht war, und ihn hätte in allen Dingen unterrichten können.


Ich hatte mich in dem einzigen Gasthaus in Altenberg, einem kleinen Ort der auf der Höhe des Berges zwischen unseren beiden Schachtanlagen lag, eingemietet, bis in den ersten Tagen Oktober meine Familie kam und wir in unsere neue Wohnung einzogen.


Die Wohnung war für uns groß genug, und im Übrigen ging es uns gut. Am 10.April 1907 wurde unser Helmut geboren. An demselben Tage wollte Herr Direktor Kretschmar mit mir die Grube befahren. Wir bestiegen zusammen den Förderkorb am Luisenschacht. Der Korb war kaum in Bewegung nach unten, als ich einen Stoß desselben merkte, der mir sonst bei meinen täglichen Einfahrten unbekannt war. Schon fing Herr Kretschmar an zu fluchen und wurde kreidebleich Auf der Tiefbausohle angekommen sah ich, daß er einen glatten Oberarmbruch erlitten hatte. Das war dadurch passiert, daß er beim Abgleiten des Förderkorbes seinen Kneifer absetzte, um ihn zu putzen. Dabei hat er den Ellbogen durch den offenen Förderkorb gesteckt und ein Einstrich (?) der Schachtzimmerung hatte ihn erwischt und den Oberarm gebrochen. Ich brachte ihn sofort wieder hoch und legte ihm einen Notverband an, um ihn dann zum Arzt fahren zu lassen. Seit diesem Tage hat Herr Kretschmar die Grube unter Tage nicht mehr gesehen. Er kam dann immer mehr unter den Einfluß des Alkohols, sodaß er sich auch gegenüber den Familienangehörigen des Generaldirektors oft vorbei benahm. Das führte eines Tages dazu, daß ihn der Generaldirektor mit sofortiger Wirkung, sowohl aus seinem Hause, als auch als Direktor des Werkes entließ. Ich wurde telefonisch aus meinem Büro am Luisenschacht gerufen, um seinen Auszug aus dem Hause und den Abgang vom Werke zu überwachen, damit er nicht etwas mitnahm was ihm nicht gehörte. Meine Anwesenheit war aber wohl mehr als persönlicher Schutz für die Familie des Generaldirektors und des Büropersonals gedacht. Nach kaum 1/2 Stunde fand der Rendant des Werkes, der von Kretschmar noch ein Buch abholen wollte, denselben tot, zwischen Sofa u. Tisch auf dem Fußboden liegen. Er hatte Eisenkalie (Wahrsch. Kaliumcyanid) genommen, das so schnell gewirkt hatte, daß er das Sofa, auf das er sich wahrscheinlich legen wollte, nicht mehr erreichte. Das war das Ende eines haltlos gewordenen jungen Lebens.


Durch eine neu erlassene Geschäftsordnung der Generaldirektion wurde ich an Stelle des verstorbenen Direktors offiziell als oberster technischer Leiter der beiden Arnold- und Luisschacht-Reviere ernannt. Da ich diese Funktion ja schon praktisch längere Zeit inne hatte, bedeutete dies für mich dienstlich keine besondere Belastung. Zu gleicher Zeit wurde mir auch die technische Leitung der zu unserer Gesellschaft gehörten Arsenkiesgrube "Eveliens-Glück" in Rothenzerkau im Riesengebirge übertragen. Dorthin fuhr ich allwöchentlich einen Tag über Kelendorf(?) Merzdorf Ruhbank Landeshut(heute Kamenna) Schreibendorf. In Schreibendorf wurde ich mit dem Wagen abgeholt. Ich besuchte dort die Grube und gab meine Anordnungen für den Weiterbetrieb und das Aufsichtspersonal. Am Abend gegen 1/2 12 Uhr war ich wieder zu Hause. Ich war verhältnismäßig und unerwartet schnell in eine gehobene Position mit großer Verantwortung gestellt. Meinen Auftrag erfüllte ich gewissenhaft, und wie ich feststellen konnte, auch zur vollen Zufriedenheit der Firma.


Am 7.August 1907 erhielten wir unerwartet die Nachricht, daß mein Vater gestorben war. Ich hatte ihn leider in 2 Jahren nicht mehr sehen Können. Wir fuhren mit unseren 3 Kindern nach Hause zur Beerdigung meines Vaters. Er war ein verhältnismäßig frühes Opfer seines Berufes geworden. Ich hatte mir nur 6 Tage Urlaub erlauben können. Solche Anlässe sind dann auch in meinem Leben immer die einzige Begründung für einen Urlaub für mich gewesen. Einen gesetzlichen oder vertraglichen Urlaub hat es für mich nie gegeben. Meine Familie blieb noch 14 Tage in unserer alten Heimat. Als ich sie dann in Oberkaufung wieder abholte hatten alle 3 Kinder den Keuchhusten. Elisabeth und Erna haben lange mit diesem bösen Husten gekämpft. Der Junge dagegen hatte ihn schnell überwunden.


Aus besonderem Anlaß waren wir im Sommer 1908 wieder in unserer Heimat. Ich wieder nur einige Tage. Die Mutter mit den 3 Kindern machten noch Besuche in Wiesbaden und Frankfurt. Ich fuhr ihnen damals bis Liegnitz entgegen. Statt des erhofften frohen Wiedersehens erwartete uns ein furchtbarer Schicksalsschlag. Als ich meine Lieben am eingefahrenen Zug in Empfang nahm, nahm die Mutter unseren Jungen auf den Arm und ich die Erna. Elisabeth war ja schon groß und konnte, so nahmen wir an, alleine laufen. Auf dem Bahnsteig angekommen schaue ich mich um und sehe unsere Große zwischen den Gleisen liegen. Ich stelle Erna auf den Boden und laufe zurück und will Elisabeth aufhelfen. Da merke ich, daß das Kind kein Glied mehr rühren kann. Ich hebe sie auf und trage sie in Wartesaal 2.Klasse und lege sie dort auf ein Sopha. Das Kind klagte über Schmerzen in allen Gliedern, besonders aber über Kopfschmerzen. Dabei hatte das Kind eine Herztätigkeit, daß ich das Schlimmste befürchtete. Zu dem Zuge nach Oberkauferung mußte ich sie tragen, und dort wieder zu dem Wagen der uns abholte. Zu Hause angekommen trug ich sie ins Bett und wir stellten hohes Fieber fest. Arme und Beine blieben vollständig hilflos. Der Arzt den ich sofort anrief kam am nächsten Vormittag und meinte, daß es sich wohl um Gelenkreumathismus handeln müsse. Damals wußte man ja noch nichts oder nur wenig von Spinaler Kinderlähmung. Aus seiner Diagnose gab der Arzt dann auch die entsprechenden Anordnungen. Leider nützte alles gar nichts. Wir erlebten furchtbare Tage und Wochen. Als wir keine Besserung in dem Zustand des Kindes sahen fuhren wir mit ihm zu dem Spezialisten Herrn Dr.Heckel in Hirschberg. Nach gründlicher Untersuchung erklärte er uns: Ja das Kind ist gelähmt! Dann sagte er weiter: Das Kind ist noch zu retten, wenn sie alles tun, was ich ihnen jetzt sage. Er verordnete Einreibungen und Massagen, heiße und kalte Bäder. Auf das heiße Bad erfolgte sofort ein Guß kaltes Wasser über den Rücken. Später wurde auch noch elektrisiert mit einem Elektrisierapparat, den wir kauften. Der Überguß mit kaltem Wasser und auch das Elektrisieren verursachtem dem Kind furchtbare Schmerzen, und kostete für unsere Mutter, die diese Prozeduren durchführen mußte, eine fast übernatürliche Willenskraft. Nach einiger Zeit glaubten wir eine kleine Besserung feststellen zu Können. Sie konnte sich aber immer noch nicht alleine aufrichten, und wenn sie mit den Füßen irgendwo anstieß fiel sie hin und konnte nicht wieder hoch. Der Arzt verlangte dann eines Tages von uns, daß wir nun das Kind nach Seitersdorf in die Schule schicken sollten, und sie weder hinbegleiten noch zurückholen sollten. Das war ein Weg von 1/4 Stunde ins Thal und ziemlich steil. Wir haben dann mittags oben am Berge gestanden, um zu sehen, wie sie hoch kam. Einmal sahen wir wie sie am halben Berge in Schnee fiel und nicht wieder hoch konnte. Wir blieben fest und ließen sie kämpfen und sie arbeitete sich tatsächlich alleine wieder auf die Beine. Der Zustand unseres Kindes besserte sich aber zusehend, wenn auch nur langsam. Es dauerte aber Jahre bis die Folgen dieser Krankheit vollständig verschwunden waren. Als wir unsere Elisabeth im Jahre 1913 auf ein Lyzeum in Liegnitz schicken wollten, ließen wir sie nochmals von Dr. Heckel untersuchen. Er sagte uns; das Mädchen ist so gesund wie nur ein Mensch sein kann. Diesen Erfolg verdankten wir zunächst der Kunst des Arztes und nochmehr dem festen Willen und der aufopfernden Liebe der Mutter. Ein gleichaltriges Kind, das damals mit ihren Eltern in denselben Tagen in Niederscheld zu Besuch war, und ebenfalls an spinaler Kinderlähmung erkrankte, mußte ihr ganzes Leben an Stöcken gehen.


Wieder zurück zu meinem Betriebe. Im Jahre 1910 trat eine wesentliche Verschlechterung der Metallpreise ein, sodaß unser Betrieb mit Zubuse arbeitete. Das hatte unsere Generaldirektion veranlagt, um einen weiteren Kredit bei der Mitteldeutschen Privatbank in Magdeburg nachzusuchen. Die Notwendigkeit dieser Kreditforderung zu begründen wurde ich nach Magdeburg gerufen und nicht der Generaldirektor. Ich habe dann vor versammeltem Aufsichtsrat und Vorstand einen Betriebsplan entwickelt und mit Zahlen belegt. Die Verwaltungskosten, die ja bei uns wahrscheinlich nicht gering waren, waren mir allerdings nicht bekannt. Wahrscheinlich hatte die Bank, die ja zweifelsohne die Majorität der Geschäftsanteile besaß, darauf gedrungen, daß die Verwaltungskosten wesentlich verringert wurden und die Generaldirektion mit dem ganzen Verwaltungsapparat mußte abziehen. Ich wurde beauftragt den eingeschränkten Betrieb inclusive aller schriftlichen Arbeiten allein zu leiten. Ich behielt mir nur eine Schreibkraft und drei Steiger für den Grubenbetrieb unter Tage. Ich zog mit meiner Familie in das Verwaltungsgebäude, in die seitherige Wohnung des Generaldirektors. Wir hatten eine hochherrschaftliche Wohnung, ich hatte ein gutes Einkommen und uns ging es recht gut. Da brach im Frühjahr 1911 wie der Blitz aus heiterem Himmel, wieder ein schweres Schicksal über uns herein. Unsere Erna, die am 1.März 6 Jahre alt geworden war, und am 1.April zur Schule kommen sollte, vergnügte sich noch am 18.März auf dem Rodelschlitten in der Nähe unseres Hauses. In derselben Nacht kam unsere Elisabeth in unser Schlafzimmer und sagte uns, daß die Erna weine. Am nächsten Tage, es war ein Sonntag, wurde das Kind nicht recht munter, aber sie konnte uns gar nicht recht erklären, wo sie Schmerzen hatte, sodaß wir die Sache noch nicht so recht ernst nahmen. Da sie aber in der kommenden Nacht weiter klagte, rief ich am Montag früh den Arzt Sanitätsrat Hellmann an, der auch bald kam. Diese untersuchte das Kind und meinte es müsse sich wohl um eine Verstopfung handeln. Im Laufe des Tages und in der kommenden Nacht, die ich ununterbrochen am Bett gestanden habe, schrie das Kind vor Schmerzen laut auf. Ich rief des Morgens früh den Arzt wieder an, und sagte ihm: Das Kind hat doch Blinddarmentzündung. Er kam sofort und mußte leider feststellen, daß es sich um Blinddarmentzündung handelte. Am Mittwoch wurde das Kind wieder ruhiger und am Donnerstag saß es wieder im Bett und beschäftigte sich mit Spielsachen, sodaß wir annahmen, daß Besserung eingetreten sei. Der Arzt kam jeden Tag, und war auch der Meinung, daß es keine Gefahr mehr habe. Als er am Sonnabend wieder das Kind untersucht hatte, meinte er, daß die Herztätigkeit bei dem Kinde doch recht schwach sei, und da er doch nicht immer dableiben könne, empfahl er uns, das Kind noch in ein Krankenhaus zu bringen. Ich rief sogleich das nächste Krankenhaus in Hirschberg an. Das Krankenhaus hatte zunächst keinen Platz, bis ich sagte worum es sich handelte, da sollten wir das Kind bringen. Ich ließ sofort unseren Wagen anspannen. Wir packten unsere Erna in warme Decken, und die Mutter fuhr mit ihr nach Hirschberg zu. Als ich annehmen konnte, daß sie nunmehr in Hirschberg ankommen könnten, da fuhr unser Gespann wieder auf unseren Hof, und unsere Mutter entstieg dem Wagen mit unserer toten Erna im Arm. Diesen Schrecken und diese Herzensnot vermag ich hier nicht weiter zu beschreiben. Unser Herrgott aber möge all unsere Lieben, die wir jetzt noch umsorgen dürfen, vor solchen Prüfungen bewahren. Erwähnen muß ich aber auch hier wieder, wie vor schon einmal, die Kraft und die Seelenstärke einer Frau und Mutter. Sie zog ihr totes Kind an, und schmückte es, sodaß es anzusehen war, wie ein schlafender Engel, ohne in verzweifeltes Wehklagen auszubrechen. Am 29.März trugen wir unsere liebe Erna, unter voller Beteiligung der Belegschaft und fast aller Bewohner Altenbergs, zur letzten Ruhe auf den Friedhof in Seitendorf a.d.Katzbach. In Ernas Grabstein ließen wir ihr Bild in vergrößertem Format unter Glas einsetzen. Ihre Ruhestätte war dann in der Folge vielfach, und immer allsonntäglich, verbunden mit Kirchgang, der Ort an dem wir uns oft ausweinen durften.


Zu dieser Zeit machte mir auch der Betrieb in Altenburg viel Sorgen. Dieser Umstand und wohl noch mehr der Verlust unseres Kindes hatte soweit an meinen Nerven gerüttet, daß ich plötzlich unter bedenklichen Schwindelanfällen, lange Zeit, ja jahrelang, zu leiden hatte. Ich komme noch darauf zurück.


Durch mangelhaften Absatz und die sehr gesunkenen Preise für Blei-Blend und Arsenerze mußte der Betrieb in Altenberg entsprechend eingeschränkt werden, sodaß meine Kraft nicht voll in Anspruch genommen wurde und ich meine Steiger nach meinen Anordnungen den Betrieb vorübergehend überwachen lassen konnte. Da ich einen Braunkohlenbergbau noch nicht kennengelernt hatte, erhielt ich von unserem damaligen Repräsentanten Regierungsrat Kessler, der gleichzeitig Justiziar der Mitteldeutschen Privatbank war, die Erlaubnis mich in diesem Bergbau zu orientieren. Ich ging dann 14 Tage auf die Grube Conkordia in Moys bei Görlitz und nachher noch 14 Tage auf eine Grube der Aktiengesellschaft "Glück auf" in Lichtenau bei Laubau Bezirk Liegnitz. Ich befuhr täglich die dortigen Werke mit den Betriebsführern und den Direktoren und betätigte mich auch zeitweise in praktischer Arbeit. Bei diesen Excursionen hatte ich noch viel gelernt, was mir später noch sehr zu Nutzen sein sollte. Zu dieser Zeit erhielt ich auch noch die Erlaubnis den mir gestellten Antrag des Drahtseilfabrikanten Deichsel aus Königshütte Oberschlesien anzunehmen. Dieser Herr Komerzienrat hatte sich ein Grubenfeld in Alfrendorf Kreis Landeshut, nach der böhmischen Grenze, gesichert, um dort ein Erzbergwerk aufzubauen. Ich sei ihm als zuverlässiger Erzbergbau-Sachverständiger empfohlen worden, und möchte ihm doch einmal die Sache begutachten und die vorläufigen Schürfarbeiten ansetzen und überwachen. Ich legte dann dort den Schürfansatz fest, warb mir eine Aufsichtsperson und 4 Arbeiter, und fuhr alle 10 Tage nach dort, um die Arbeiten zu kontrollieren. Dann gab ich jedesmal einen kurzen Bericht an den Herrn Komerzienrat. Nach Ablauf eines halben Jahres mußte ich ihm mitteilen, daß die Arbeiten in Albendorf ergebnislos verlaufen seien, und nach meiner Ansicht auch in Zukunft ergebnislos bleiben müßten. Er ließ dann auch die Arbeiten einstellen, und war mir dankbar, daß ich ihn so aufrichtig und fachlich beraten, und vor größeren Ausgaben bewahrt hatte.


Im Laufe der letzten Jahre war mein Einkommen durch die Leitung der Nebenbetriebe in Rothenzeshau, Albendorf, und dem Hauptbetrieb in Altenberg wesentlich gestiegen, sodaß wir neben vielen Anschaffungen im Haushalt, schon recht ansehnliche Ersparnisse gemacht hatten.


Die Mitteldeutsche Privatbank Magdeburg hatte, wie ich schon angedeutet habe, das Werk in Altenberg ganz an sich gezogen, wollte aber als Bank selbst den Betrieb in eigener Regie auf die Dauer nicht weiterführen, und versuchte die Grube zu verkaufen. Es fand sich bald eine Englische Gesellschaft die sich dafür interessierte. Im Frühjahr 1912 wurde der Kaufvertrag von unserem Repräsentanten, dem Justitiar der Bank Herrn Regierungsrat Kessler und mir einerseits, und dem Vertreter einer Englischen Gesellschaft Herrn Kempf andererseits, in dem Vorort Ellenbogen bei Karlsbad in Böhmen abgeschlossen. Ich erhielt von der Bank eine recht ansehnliche Provision, und mit der neuen englischen Gesellschaft einen sehr günstigen Dienstvertrag als Betriebsleiter. Gleichzeitig bekam ich mit meinem Dienstvertrag neben der Leitung der Grube in Altenberg auch die Leitung eines Schürfbetriebes bei Bad Janowitz im Bobec-Katzbach Gebirge zu überwachen und zu leiten.


Der Betrieb in Altenberg wurde wieder voll aufgenommen und ich bekam sehr viel zu tun, dabei aber wenig Freude an meiner Tätigkeit. Der neue Repräsentant, wie auch die anderen Herrn Engländer, die ich kennenlernte, hatten leider keine Ahnung vom praktischen Bergbau. So kam es dann oft zu unangenehmen Meinungsverschiedenheiten. Der Repräsentant Herr Kempf sprach ein sehr gutes Deutsch. Er hielt sich aber mehr in Frankfurt a.M. auf, als in Altenberg und legte die Reise hin und her immer im Auto in einem Tag zurück. D.h. die einmalige Fahrt. Ich hatte Niemand mit dem ich mich über praktische Fragen im Betrieb unterhalten und beraten konnte, und habe mich deshalb in meinem Selbstständigkeitsgefühl gar nicht stören lassen.


Im Frühjahr 1913 schickten wir unsere Elisabeth in ein Privat Lyzeum in Liegnitz.


Im Jahr 1914 brach plötzlich der erste Weltkrieg aus, der sich dann auch auf unseren Betrieb sogleich recht störend auswirkte. Am 15.Januar 1915 kam die Verordnung heraus, wonach auf dem Wege der Wiedergutmachung alles englische Eigentum im Deutschen Reiche beschlagnahmt wurde. Als Betriebsleiter der englischen Gesellschaft wurde auch ich mit sofortiger Wirkung, seitens der Bergbehörde entlassen. An meiner Stelle wurde gleich ein alter Bergingenieur eingesetzt, und das ganze Unternehmen einer gleichartigen Firma in Oberschlesien übertragen. Die an sich recht anfechtbare Sachlage machte mir damals wenig Kummer, denn ich hatte ja Geld genug, um einstweilen vor Sorgen um unsere Zukunft bewahrt zu sein. Meinen englischen Chef oder sonst einen Engländer habe ich nie wieder gesehen. Nach dem verlorenen Krieg hat das Deutsche Reich an die englische Gesellschaft 10 Millionen Wertersatz zahlen müssen. Ich wurde später vom Ministerium in Berlin ein Werturteil über das Werk in Altenberg gebeten, und habe mir Mühe gegeben das Urteil zugunsten des Reichs abzugeben. Aber das Reich hat zahlen müssen.


Ich schrieb damals sogleich an Herrn Regierungsrat Kessler und bekam postwendend den Bescheid die Stelle eines Betriebsinspektors auf der Braunkohlengrube "Friedrich" bei Hammersleben Bezirk Halberstadt zu übernehmen. Der seitherige Inspektor war zum Kriegsdienst eingezogen und auf verschiedene Reklamationen nicht entlassen worden. Nach 1/2 Jahr erschien dann doch unerwartet der alte Inspektor wieder im Betrieb und ich mußte selbstverständlich zurückstehen. Das war damals insofern recht unangenehm, als ich um überhaupt eine Wohnung zu bekommen, einen Mietvertrag auf die Dauer von 5 Jahren hatte eingehen müssen. Diesen Mietvertrag übernahm dann glücklicherweise nach 1/2 Jahr ein Lehrer in Halberstadt.


Durch Vermittlung der Bank in Magdeburg übernahm ich sogleich eine Begutachtung der Bubendorfer Kohlenwerke bei Frohburg Bez.Borna bei Leipzig. Dort wurde mir anschließend die Stelle eines Betriebsdirektors übertragen, und wir zogen um nach Frohburg. Unsere Elisabeth kam nach Leipzig auf eine höhere Töchterschule und unser Helmut zunächst in die Volksschule zu Frohburg. Im Frühjahr 1916 kam Helmut nach Borna aufs Gymnasium. Die tägliche Bahnfahrt nach Leipzig und die damals überaus schlechten Ernährungsverhältnisse verursachten für unsere Elisabeth auf die Dauer untragbare Strapazen. Ich versuchte deshalb das Kind auf das Gymnasium in Borna unterzubringen. Meinem Gesuch wurde stattgegeben mit dem Vorbehalt, daß sie 5 Jahre Latein nachholen müsse. Dieses Nachholen hatte das Kind neben dem sonstigen Unterricht in nur einem halben Jahr glänzend geschafft. Elisabeth wurde als einziges Mädchen in dem Gymnasium die Beste der Klasse.


Meine Tätigkeit in Frohburg wurde eine recht schwere und unerfreuliche. Ein gänzlich verwahrloster Betrieb mit 80 gefangenen Russen, mit nur wenigen älteren deutschen Arbeitern, und ein paar älteren energielosen Aufsehern, bei veralteten Betriebsmitteln machten mir schwere Sorgen und Aufregung. Der Besitzer und Repräsentant ein Kohlenhändler von Beruf aus Leipzig, ging auf meine Vorschläge für Neuanschaffungen, wie ich sie schon in meinem Gutachten gefordert hatte, nicht ein. So kam es dann auch oft zu recht unliebsamen Auseinandersetzungen zwischen uns Beiden und mir wurde klar, daß ich auf längere Dauer dort nicht bleiben würde. Schon nach 1 1/2 Jahren schrieb ich an die damaligen Leiter der Geologischen Landesanstalt in Berlin die Geheimräte Beyschlag u. Krusch, daß ich wieder zum Erzbergbau zurück möchte und bat um ihre Empfehlung. Schon nach einigen Tagen erhielt ich eine Einladung, mich bei der Verwaltung des Nickelbergbau Syndikats, die damals in Händen der Kriegsmetall A.G. lag, im Hotel "Europäischer Hof" in Dresden vorzustellen. Ich fuhr nach Dresden und wurde dort gleich zum möglichst sofortigen Antritt als Direktor der Nickelerzgruben in Sohland a.d. Spree in Sachsen und Rosenkrain in Böhmen angagiert.


Schon am nächsten Tage reiste ich mit dem Direktor der Kriegsmetall A.G. nach Sohland und befuhr mit diesem und dem Repräsentanten der Gesellschaft dort gleich die Grube. Auch hier hatte ich die Gelegenheit und das Glück meinen guten Ruf als Erzbergmann wesentlich zu festigen. Man hatte hier die Erzführung, ja sogar den Gang verloren und fuhr im tauben Nebengestein, weil der damalige Betriebsleiter eine Verwerfung des Ganges nicht erkannt und beachtet hatte. Dies konnte ich den Herren schon bei dieser ersten Einfahrt sofort erklären. Ich ordnete sofort die Einstellung der falsch gefahrenen Strecke an, und gab den Ansatzpunkt und die Richtung der neuen Strecke an. Schon nach 8 Tagen konnte ich nach Hamburg telefonieren, daß der Erzgang mit schönem Anbruch, wieder angefahren sei. Ich erhielt dort vollständige Selbsständigkeit im Grubenbetrieb und in der Verwaltung. Nur sandte ich jede Woche einen kurzen Bericht nach Hamburg. Weniger angenehm war es, daß der Betrieb unter Tage zur Hälfte auf der sächischen Seite und die andere Hälfte auf böhmischer Seite sich abspielte. Ich hatte es daher mit der Bergbehörde Böhmens in Teplitz-Schönau, und dem Oberbergamt in Freiberg in Sachsen zu tun. Dieselben Unannehmlichkeiten lagen vor mit den beiden Zollbehörden, der Sächsischen und der Böhmischen, die in einem Gebäude an der Landesgrenze stationiert waren. Denn alles Material mußte hinüber und die Erze herüber geschafft werden und bedurften immer einer Einfuhr- oder Ausfuhrgenehmigung. Da bildete man sich allmählich zum gewieftesten Parscher aus. Einigemal mußte ich mich auch deswegen vor dem böhmischen Gerichtsvertreter in Schluckenau verantworten. Das war dann aber gewöhnlich eine recht harmlose Sache und kostete, um die Form zu wahren, nur einige Kronen Buse, wie der Richter das nannte. Die meisten Transporte über die Grenze kosteten nur einige Schnäpse für den böhmischen Zollbeamten, der immer Durst nach diesen Dingen hatte. Der peinlichste Umstand war aber, daß ich meine Familie nicht gleich mitnehmen konnte, weil eine passende Wohnung nicht aufzutreiben war. Ich hatte mir im Gasthaus "Zur Grenze" zwei Zimmer gemietet und fuhr alle 14 Tage nach Frohburg zu meiner Familie. Am 26.März wurde uns noch mal ein Töchterchen, unsere Renate, geboren. Erst im Oktober 1918 konnte ich meine Familie nach Sohland holen. Unsere Elisabeth, die inzwischen in Borna das Einjährige Reifezeugnis erhalten hatte blieb zu Hause, um sich in der Hauswirtschaft weiter zubilden, und unser Helmut kam auf das Gymnasium nach Bautzen. Ich hatte inzwischen im Bezirk Schluckenau Böhmen, wieder als Vertrauensmann, für eine Töplitz-Schönauer Firma ein weiteres Bergwerk zu betreuen.


Unsere Firma schloß im Jahre 1917 einen Pachtvertrag mit der damaligen Phönix A.G. zwecks Gewinnung von Brauneisenerzen auf einer alten Grube in Lindthal bei Lautenthal im Oberharz. Ich wurde beauftragt dorthin zu fahren, einen Betriebsplan zu entwerfen und entsprechende Anweisungen zu geben. Ich reiste dann allmonatlich von Sohland aus über Dresden-Leipzig-Halle Goslar nach Lindthal. Im Hotel Achtermann Goslar nahm ich dann für 1-2 Tage Wohnung. Nachdem ich die Arbeiten in Lindthal kontrolliert und weitere Anweisungen gegeben hatte fuhr ich wieder nach Sohland zurück.


Als für das Deutsche Reich der erste Weltkrieg verloren war, wurde das Böhmerland Tschechischer Staat. Die Tschechen erwarben dann im Jahre 1919 alles Deutsche Eigentum, besonders alle Erzbergwerke, in ihren Grenzen und zahlten gar nicht schlecht, in ihrer damaligen Großmannssucht. So erwarb auch die Chifmostenskabank in Prag unsere Nickelerzgrube in Rosenhain- Sohland zum Preise von einer Million Tschechen-Kronen. Inzwischen erließ die Tschechenregierung ein Verbot für Ausführung von Tschechenkronen, und der Betrag von 1 000 000.- Kronen wurde zunächst an einen Geschäftsfreund meines Chefs überwiesen und ich habe diese Million in einer Nacht über die Grenze geschmuggelt. Den nächsten Tag habe ich auf das Konto meines Chefs bei der Dresdner Bank in Dresden das Geld eintragen lassen. Mark + Krone standen damals noch Pari, also 1 000 000.-Mk 1 000 000.-Kronen. Der Kaufvertrag an die Tschechen war an die Voraussetzung geknüpft, daß ich die Betriebsleitung des Werkes behielt. Meine Funktion in Lindthal mußte ich jedoch aufgeben, die Tschechen verfügten damals über keinen praktischen Bergmann dem sie die Leitung ihres Betriebs hätten anvertrauen können, und außerdem konnten sie ja auch die Erze weiter an die Muldener Hütte in Freiberg in Sachsen absetzen.


Die Herren in Prag behandelten mich auch deshalb sehr nett und anständig. Ich fuhr allwöchentlich nach Prag zur Berichterstattung. Man gab mir dann immer einen Herrn mit, weil in den Jahren 1919/20 in Prag jeder deutsche Laut mit großer Gefahr verbunden war. Der Begleiter sorgte auf Kosten der Bank für gute Verpflegung und zeigte mir die Sehenswürdigkeiten Prags. Abends fuhr ich dann wieder nach Hause.


Die Herren in Lindthal hätten mich damals schon gern mit nach dort übernommen, aber es war bei dem Ankauf des Werkes in Sohland ausgemacht, daß ich bleiben sollte. Ich habe dann auch Stand gehalten, bis ich merkte, daß die Tschechen, die inzwischen in Prag eine Bergbauschule gegründet hatten, im Erzgebirge nach und nach ihre deutschen Bergbauangestellten entließen und mit Tschechen besetzten. Da zog ich es vor im Jahr 1921 dem Rufe meiner alten Firma zu folgen, und übernahm im Oktober 1921 die Leitung der Grube in Lindthal. Die Firma stellte mir eine Wohnung in Goslar in Aussicht, was mir wegen den Schulverhältnissen für meine Kinder sehr zusagte. Aber ich erfuhr erst, daß ich wegen der in Goslar damals schon herrschenden Wohnungsnot, dort gar keine Wohnung bekommen konnte. So mußten wir zunächst mit der kleinen Wohnung in dem Hause das der Firma schon gehörte in Lautenthal vorlieb nehmen. Ich mietete dann für unsere Elisabeth 2 Zimmer in einem Hause in der Beckerstraße, wo wir auch einen Teil unserer Möbel unterbringen konnten.


Ich bekam sogleich für unsere Firma Prokura, und habe dann alles versucht, um doch noch nach Goslar zu kommen. Ich konnte ein Haus in Goslar kaufen und stand vor dem Kaufabschluß. Da erklärte mir das Wohnungsamt: Und wenn Sie das Haus kaufen, dann Können Sie doch nicht hineinziehen. So mußten wir dann notgedrungen in Lautenthal bleiben. Es dauerte ja dann auch gar nicht so sehr lange, da konnten wir das ganze Haus bewohnen, in dem damals noch der seitherige Buchhalter in Lindthal mit seiner Familie die untere Etage bewohnte.


Das kam so: Bei der Übernahme der Gesamtleitung in Lindthal stieß ich bald auf Unstimmigkeiten in den Schichtenbücher und Lohnlisten, die mich veranlaßten die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Ich stellte dann fest, daß der seitherige Obersteiger und Betriebsführer in den letzten zwei Jahren über 20 000.-Mk unterschlagen hatte. Auf Wunsch unseres Repräsentanten, dem ich den Sachverhalt telefonisch mitteilte, ließ ich den Herrn sofort verhaften und seinen Bruder der als Rechnungsführer funktioniert hatte, bei den Verfehlungen, die er eingestand, mitgeholfen hatte, entließ ich fristlos. Der Letztere zog dann auch bald aus Lautenthal fort und wir konnten daher das ganze Haus alleine bewohnen. Von da ab wurde unsere Elisabeth meine Buchhalterin. Leider setzte schon bald die Inflation ein die erhebliche Schwierigkeiten im ganzen Betrieb hervorrief so daß der Betrieb immer mehr eingschränkt werden mußte. Meine Bezüge gingen uneingeschränkt weiter, aber wenn ich mein Gehalt in die Hände bekam, dann konnte man dafür schon nichts mehr kaufen. Die dauernde sprunghafte Entwicklung der Geldentwertung brachte uns auf den Gedanken das Haus in dem wir wohnten, wenn möglich, noch schnell von unserem Gelde käuflich zu erwerben. Ich stellte einen dahingehenden Antrag bei der Firma, die auch damit einverstanden war, die Kaufverhandlungen, die ich als Prokurist der Firma selbst führte, ließ ich durch einen Rechtsanwalt bei dem zuständigen Amtsgericht in Zellerfeld sogleich einleiten, und schon Ende 1922 waren wir Besitzer unseres jetzigen Hauses in Lautenthal.


Als die Inflation beendet war und in der Geldwirtschaft wieder stabile Verhältnisse eintraten, hatte ich durch einen Vermittler versucht, die Firma "Rombacher Hüttenwerke", die durch den Friedensschluß 1919 ihre Werke in Lothringen verloren hatte, für den Weiterbetrieb der Grube in Lindthal zu interessieren. Ich selbst fuhr nach Hannover und verhandelte mit der Direktion. Die Firma übernahm dann auch bald den Vertrag mit der Phönix A.G. und der Betrieb wurde wieder aufgenommen. Ich behielt die Betriebsführung, bekam aber in technischen Dingen insofern einen schweren Stand, als die Herren der Direktion in Hannover aus dem einfachen Minetterzbergbau in Lothringen kamen und vom Gangerzberbau nicht viel verstanden. Leider trat schon im Jahre 1926 eine Krise im ganzen Deutschen Eisenerzbergbau ein. Diese Tatsache führte dazu, daß die Rombacher Hüttenwerke von ihrem Pachtvertrag befreit wurde, und der Betrieb in Lindthal wurde wieder eingestellt, und ich war stellungslos. Da damals viele Eisenerzgruben im Deutschen Reiche zum Erliegen kamen, sah ich in meinem Alter keine Möglichkeit mehr irgendwo eine mir zusagende Stellung zu bekommen. Meine seitherigen einflußreichen Gönner waren entweder gestorben oder pensioniert.


So habe ich mich dann, wie viele andere Kollegen, kurz entschlossen, und reichte meinen Pensionierungsantrag bei der Reichsknappschaft ein. Da ich die notwendigen Dienstjahre im Bergbau nachweisen konnte, wurde meinem Antrag auch bald stattgegeben.


Auch mein Invalidisierungsantrag bei der Reichs-Invalidenversicherung hatte Erfolg. Damit war meine bergmännische Laufbahn zu meinem großen Bedauern beendet. Ich übernahm die Vertretung für eine Lebensversicherung und später nahmen wir Kurgäste. Die Vereinigten Stahlwerke G.m.b.H. übertrugen mir die Beaufsichtigung ihrer Grubenfelder im Oberharz. Diese Funktion habe ich ausgeführt bis zum Ablauf des vorigen Jahres, also 24 Jahre lang. Wir hatten unser Auskommen und konnten unserer lieben kleinen Renate noch eine gute Schulbildung und eine Ausbildung in Hauswirtschaft angedeihen lassen. Unser Helmut der uns immer einige Sorgen machte, ging nach absolvierter Kaufmannslehre zum Reichsarbeitsdienst. Im Jahre 1928 heiratete unsere Elisabeth einen lieben braven Mann, den wir bald lieben und schätzen lernten. Im Laufe der Jahre bekamen wir drei gesunde Enkelbuben und unsere Freude und unser Glück war vollkommen. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewger Bund zu flechten. Wir sollten den bitteren Kelch des Lebens noch einmal ganz auskosten. Unsere liebe Elisabeth wurde nach einem, wie wir alle glaubten, geringfügigen operativen ärztlichen Eingriff ernstlich krank und mußte am 1.Januar 1937 sterben. Dieses Leid vermag ich hier nicht zu schildern, und diese Wunde, die uns geschlagen wurde, kann und wird nie ausheilen. Hier sprang jetzt unsere kleine, damals noch nicht 20 Jahre alte Renate ein und übernahm die Mutterschaft an den 3 Buben ihrer verstorbenen Schwester. Das war ein Trost für unsere wunden Herzen, und wir erkannten, warum uns unser Herrgott nach 11 jähriger kinderlosen Zeit im 1918 nochmal ein kleines Mädel geschenkt hatte. Inzwischen heiratete unser Helmut eine Frau die wir nicht kannten. Wir waren aber damit einverstanden und unser Junge wurde dann auch noch ein braver Sohn und fürsorglicher Ehemann. Er hatte auch eine recht angenehme Stellung, mit auskömmlichem Einkommen für seine Familie, die auf 3 liebe gesunde Buben anwuchs, erhalten. Wir waren darüber froh und glücklich. Da wurde er im Jahre 1943 zum Kriegsdienst eingezogen und kam im Sommer 1944 nach Rußland an die Front. Schon am 9.August 1944 mußte er sein Leben lassen. Zu Weihnachten 1940 wurde unsere Renate und unser Schwiegersohn Martin ein Ehepaar und unsere Storzen Buben hatten wieder eine richtige Mutter, an der sie hingen, wie an der leiblichen Mutter. Das Leben verlief für uns alle wieder in ruhigen Bahnen. Die Storzenfamilie vermehrte sich noch um einen Buben und ein Töchterlein. Auch diese verhältnismäßige ruhige Zeit sollte nicht von langer Dauer sein. Wie ich schon mitteilte fiel am 9.August unser Helmut in Rußland und hinterließ Frau und 3 unversorgte Buben. Dazu kam noch, daß die Familie am 12.Dezember 1944 ausgebombt wurde und der größte Teil ihres Hausrats verbrannte, und die Frau mit den 3 Buben Heimat und obdachlos wurde. Auch unser Schwiegersohn Martin war inzwischen zum Militärdienst eingezogen. Er wurde jedoch noch vor dem Zusammenbruch wieder entlassen. Der dauernde Fliegeralarm auch hier, und die längere Zeit vollständige Unterbrechung jeder Verständigung mit unseren Lieben in aller Welt brachte uns Beide in eine fast verzweifelte Situation. Dazu mußte wir auch noch im April 1945 eines Abends unser Haus verlassen und in die Berge flüchten. Dann erfolgte kurz darauf der gänzliche Zusammenbruch unseres lieben Vaterlandes, nachdem viele Städte und Dörfer durch Bombenangriffe zertrümmert und 1000ende Zivilpersonen, Frauen und Kinder, in den Trümmern ums Leben kamen. Auch uns sollte dann nochmals ein besonders harter Schlag treffen, als unser lieber Martin, nach unserer Überzeugung vollständig schuldlos, in eine furchtbare Situation gezogen wurde. Ihr alle kennt ja die Affäre. Der außergewöhnlichen Tapferkeit mit der unsere Renate diese schwere Zeit als Frau und Mutter durchgestanden hat, muß ich hier rühmend gedenken. In diese schweren Tage fiel ein Lichtblick in Gestalt unserer kleinen Angelika, unseres jüngsten Enkels, der uns später so viel Freude und Glück brachte. Auch die schwere Zeit für unseren lieben Schwiegersohn Martin wendete sich nach einem traurigen Zeitabschnitt wieder zum Guten, sodaß ich ihm 8 Wochen vor meinem 81. Geburtstage zu seinem ganz besonderen Erfolge in seinem Berufe gratulieren konnte. So leben wir zur Zeit einmal wieder ohne besondere Sorgen.


Möge der liebe Gott uns Alle vor weiteren Schicksalsschlägen und bösen Zeiten bewahren, damit wir unsere alten Tage noch geruhsam in angenehmen Gedanken an unsere Lieben verleben können.


Damit möchte ich die Niederschrift meiner Lebenserinnerung schließen. Was jetzt noch geschieht erleben ja meine Nachkommen mit, und ich stelle anheim, das was diesen nennenswert erscheint hier eventuell noch im Nachtrag zu bringen. Ich habe meine Erinnerungen in Form einer Erzählung gebracht, die ich nach Möglichkeit auf die wichtigsten Ereignisse beschränkte. Auch habe ich mir Mühe gegeben leserlich zu schreiben, was mir oft schwer geworden ist, denn meine unruhig gewordene rechte Hand will nicht mehr immer gehorchen, und hat zeitweise ganz versagt.


Wenn ich heute an meinem 81.Geburtstag auf mein Leben zurückblicke dann sehe ich auf einen steten Wechsel von viel Freude und Glück aber auch bitterem Leid und ein Leben in hartem Kampf ums Dasein.


Meine Kindheit die keinesfalls ohne kindliche Freuden war, verlief in für meine Nachkommen unvorstellbar ärmlichen Verhältnissen. Als junger Bursche war ich nicht als Kopfhänger bekannt. Ich nahm die Freuden wo Freude gegeben war. Aber in meinem Heimatort Eibach in dem ich bis zur Vollendung meines 27. Lebensjahre blieb, haftet an meinem Namen kein Makel, und ich erfreute mich immer wieder treuer Freunde. Erst in diesem Alter bin ich ohne Anhang und ohne Protektion von irgendwelcher Seite und gänzlich mittellos in die Welt gegangen, und habe den Kampf ums Leben aufgenommen. Das Leben hat mich sowohl seelisch, wie auch beruflich oft vor Situationen gestellt die mir schweres Kopfzerbrechen und auch schon schlaflose Nächte bereiteten. Ich habe im Leben viele Menschen und Karakter, hohe und niedere, kennen gelernt. Viele die mich schätzten, und welche die mich weniger schätzten. Ich bin mit beiden Richtungen fertig geworden. Mein Mut und mein fester Wille haben mich, das darf ich wohl sagen, ohne mich einer persönlichen Überhebung schuldig zu machen, und in Anbetracht meiner Herkunft und einer fehlenden akademischen Ausbildung, zu außergewöhnlichen Erfolgen geführt. Aber all mein Mut und mein fester Wille wären ohne Erfolg geblieben, wenn mir unser Herrgott nicht die Lebensgefährtin geschenkt hätte, die ich in meiner treuen Sanni fand. Sie ist es gewesen, die mich über alle Klippen im Lebenskampf gehoben hat. So ist es denn auch heute mein sehnlichster Wunsch: Gott erhalte mir meine Sanni bis ich für immer die Augen schließe.


Lautenthal, den 16.März 1950

August Habicht.


N.B. In die Zeit in der wir hier in Lautenthal wohnen, also seit Oktober 1921 fallen noch einige Erinnerungen die mir noch erwähnenswert erscheinen, seien hier noch nachgetragen.


Dem verlorenen 1.Weltkrieg bildeten sich hier wie überall zwei Organisationen, die sich zur Aufgabe stellten unser Volk und Vaterland wieder aufzurichten. Die eine Organisation "Der Stahlhelm" erstrebte vorwiegend die Wiederwehrfähigmachung des Deutschen Volkes auf soldatischer Grundlage. Die andere Organisation "Der Jungdeutsche Orden" erstrebte die Wiederaufrichtung des Deutschen Volkes auf mehr geistig erzieherischer Grundlage. Ich trat 1923 dem Jungdeutschen Orden bei, und man wählte mich zum Großmeister der Bruderschaften Lautenthal-Hahnenklee. Diese Funktion hat mich bis zur Machtübernahme durch die N.S.D.A.P. sehr beschäftigt und befriedigt. Neben vielen älteren Herren waren damals die Lautenthaler und die Hahnenkleer Jugend fast vollzählig bei uns organisiert. Die Jugend war mir sehr zugetan und machten mir lange Zeit viel Freude. Wir übten Hilfsbereitschaft in jeder Form, spielten Theater und trieben rege Sport. Ich ging mit meinen jungen Leuten zu fast allen sportlichen Veranstaltungen der näheren und weiteren Umgebung, und holten überall die ersten Preise. Durch die N.S.D.A.P. wurde im Jahre 1933 die Organisation verboten.


Im Jahre 1926 wurde ich als Vorsitzender des neu gegründeten Bürgervereins in Lautenthal gewählt. Diese etwas undankbare Tätigkeit übte ich aus, bis auch dieser Verein im Jahre 1933 durch die N.S.D.A.P. verboten wurde


Im.Jahre 1934 wurde mir in den Gemeinden Lautenthal u. Hahnenklee die Controlle der Gesinde- Bier- und Lustbarkeitssteuer übertragen, die ich 4 Jahre lang ausübte. Im Frühjahr 1931 wählte mich die hiesige Konsum-Genossenschaft in den Vorstand als Controlleur. Diesen Posten versah ich bis die N.S.D.A.P. im Jahre 1940 auch diese Genossenschaft liquidierte.


Als im Jahre 1943 alle wehrfähigen Männer zum Kriegsdienst eingezogen wurden, und großer Mangel an Arbeitskräften eintrat, meldete ich mich noch als 74 Jahre alter Mann beim Arbeitsamt in Goslar zur Arbeit. Ich wurde dem hiesigen Hüttenbetrieb zugewiesen und tat noch annähernd 2 Jahre Dienst in der Materialienverwaltung diese Betriebs.


Aus dem Vorgesagten geht hervor, daß ich auch nach Beendigung meiner beruflichen Tätigkeit nicht müßig gewesen bin. Die Arbeiten in unserem Garten und die Sorgen um Holzbeschaffung u.Holzzerkleinerung u.s.w. mit dem ich noch heute meine Tage verbringe, haben mich körperlich gesund erhalten. All die anderen Tätigkeiten hielten mich auch geistig noch wach und frisch. Sie halfen mir auch darüber hinweg, daß mich eine Inflation und nochmals eine Währungreform, um den Erfolg meiner Lebensarbeit brachten.


Ende des Berichts..01.9602.19.94ÛR




Anmerkungen:


1. Schiefertafel, Schreibtafel aus Schiefer

2. Griffel, Stift aus Schiefer, zum Schreiben auf den Schiefertafeln

3. Absinken, bergmännischer Begriff entspricht Abteufen, das herstellen eines Schachtes von oben nach unten. Als Begriff bedeutet es einen Nebenschacht von geringer Tiefe.

4. Sohle

5. Kapitulieren

6. Bremsberg- Bremschacht bremsweg, dies sind verbindungen zweier Sohlen, meist in der Fallinie der Lagerstätte, um die Fördergeräte mittels künstlicher Vorichtungen aus einem höheren Punkt zu einem tieferen durch hemmende Bewegung herabzulassen

7. Einfallen- soviel wie Einfallswinkel, 30° Schjräge

8. Malchen-Amalie verheiratete Dienethal, jüngere schwester von Susanne Hänche.

9. Rendant – Kassenverwalter, auszahlender Rechnungsführer

10. Parscher- soviel wie Schmuggler