(aus: Nassauisches Heimatbuch, Kapitel 47, S. 270f., Wiesbaden 1913) *)
"Der Westerwälder Hausierhandel, die Sachsengängerei oder Landgängerei, ist jetzt 100 Jahre alt. Wenn auch schon früher Westerwälder vereinzelt in die Fremde zogen, um Erzeugnisse der Heimat, wie Steingutwaren, in den Niederlanden zu verkaufen, so kam der Hausierhandel doch erst während und nach den Freiheitskriegen in Schwung. In dieser Zeit waren Westerwälder als Soldaten bis an die östlichsten Grenzen des deutschen Reiches und nach Rußland gekommen. Da die Verhältnisse in der Heimat damals noch recht ärmlich waren und wenig Gewähr für ein halbwegs gutes Fortkommen boten, so gründete sich mancher Sohn des nassauischen "Sibirien", wie man den Westerwald damals nicht selten nannte, im fremden Lande eine neue Existenz, indem er Hausierhandel betrieb. Die Beziehungen zur Heimat gaben die Hausierer dabei nicht auf; im Winter, wenn der Handel schlecht ging, kehrten sie vielfach in die Heimat zurück.
Westerwälder "Landgänger" kamen mit ihrem Gefährt, das mit allerlei Erzeugnissen der heimischen Töpferei beladen war, bis nach Rußland. Als dann durch den Bau der Eisenbahn der Verkehr erleichtert wurde, kehrten sie regelmäßig im Spätherbst in die Heimat zurück, um dann im nächsten Frühjahr wieder auf Handel in die Fremde zu ziehen. Seine Blütezeit erreichte der Hausierhandel nach dem Krieg 1870/71.
Damals fanden sich unternehmungslustige Hausierer, die sich nicht mehr begnügten, selbst zu handeln, sondern sie dingten im Winter in den Westerwaldorten zahlreiche junge Leute, Mädchen und Burschen, und zogen im Frühjahr mit ihnen hinaus ins Land. Die jungen Leute erhielten eine so hohen Lohn, wie er sonst nicht zu verdienen war. Es fanden sich daher Eltern genug, selbst aus mittleren Bauernfamilien, die trotz der Gefahren, die ihren Kindern drohten, diese verdingten. Manche Kinder klagten im Herbst bitter über die Härte der Unternehmer oder über unzureichende Beköstigung und schlechte Wohnung. Viele machten sich nach einigen Jahren selbständig und handelten auf eigne Faust, denn sie hatten inzwischen entdeckt, daß beim Hausieren recht viel Geld zu verdienen war. Im allgemeinen waren die Leute auch haushälterisch. Sie ließen die alten, von den Eltern ererbten Häuser abreißen und neue an deren Stelle bauen. Sie kauften sich Äcker und Wiesen, und in manchen Orten war kein Land mehr zu haben, weil die Landgänger es aufkauften. Andere gründeten Geschäfte oder industrielle Anlagen und legten auf diese Art das verdiente Geld in der Heimat an. Einzelne haben sich auch in der Fremde ansässig gemacht und es dort zu Wohlhabenheit gebracht.
Der Hausierhandel wurde in der Weise betrieben, daß die Hausierer ihren Wohnsitz in eine bestimmte Stadt verlegten und von hier aus die Umgebung bereisten. Zumeist war es Sachsen, wohin die Westerwälder zogen, daher der Name "Sachsengänger". Vereinzelt wurden auch Hamburg und pommerische Städte besucht. Die Sachsengänger handelten hauptsächlich mit Regen- und Sonnenschirmen, Putzpulver und dergleichen. An dem Putzpulver soll besonders viel verdient worden sein, denn man sagte oft, daß die hellen Westerwälder dasselbe vielfach vor den Toren der Stadt gewonnen und den ebenfalls hellen Sachsen für gutes Geld verkauft hätten. Die Hausierer, welche Hamburg besuchten, vertrieben Wollwaren und allerlei Verbrauchsgegenstände. Interessant ist es auch, daß einzelne Westerwaldorte ihre besondere Art von Landgängern stellten. Aus Frickhofen kamen die Holzwarenhändler, die Schwarzwälder Holzwaren, namentlich Kochlöffel, vertrieben, aus dem Amte Wallmerod die Händler mit Schirmen und Wachstuchen und aus der Gegend von Rennerod diejenigen mit Woll- und Kramwaren. Händler aus Westernohe hausierten mit Spitzen, die aus Thalheim und Wilsenroth hauptsächlich mit Hirschgeweihen, die aus Ransbach und Umgebung kamen mit Teppichen, Rouleaus und Kokosmatten, und Sessenhausen stellte die Strohhuthändler. Die Händler aus dem Unterwesterwaldkreis gingen vorwiegend nach Holland und Belgien. Nicht selten gingen Eheleute zusammen "ins Land" und gaben ihre Kinder im Sommer daheim in Pflege. Mit der "Sachsengängerei" verwandt ist auch das Geschäft der Elzer und Salzer Musikanten. Während erstere jetzt noch in Deutschland herumziehen, haben die Salzer den Betrieb eingestellt. Sie hatten sich England auserkoren und sollen dort, namentlich in London, sehr viel Geld verdient haben. Man hat wenig davon gehört, daß die Westerwälder Hausierer in der Fremde heruntergekommen oder untergegangen wären. Hierzu hat wohl meistens der Umstand beigetragen, daß durch die Rückkehr im Winter und damit die stete Beziehung zur Heimat von wohltätigem Einfluß gewesen ist.
Der Bezug der Waren geschieht bei den Hausierern, wie bei großen Geschäften, auf Jahresabschluß und auf Abruf. Sobald im Herbste die Händler in der Heimat angelangt sind, kommen schon die Reisenden der Großhändler und machen die Verkaufsabschlüsse. Noch vor wenigen Jahren hatten diese Reisenden, hauptsächlich aus Berlin, Leipzig und Krefeld, den ganzen Winter im Westerwald zu tun.
Vergleicht man den Hausierhandel von heute mit dem vor 10 oder 20 Jahren, so ist ein großer Rückgang festzustellen, zunächst eine Folge der Gesetzgebung von 1896, die die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter verbietet, sodaß jetzt nur noch ältere Leute, die schon 20 bis 40 Jahre die Fremde bereist haben, ihrem Berufe nachgehen, von dem sie nicht lassen können. Mehr aber als diese gesetzliche Einschränkung haben die in jüngster Zeit gebesserten Erwerbsmöglichkeiten der Heimat einen Rückgang des Hausierhandels zur Folge gehabt. Nachdem der Westerwald in hervorragender Weise dem Verkehr erschlossen worden ist, finden die Bodenschätze der Landschaft nutzbare Verwendung, und die jungen Leute finden daheim ausreichend Erwerb. Neue Sachsengänger gibt es nicht mehr, und die Zeit wird nicht mehr fern sein, daß niemand mehr "ins Land" geht.
*) Ein Hinweis in eigener Sache: Dieser Artikel stammt aus dem Buch "Nassauisches Heimatbuch - Regierungsbezirk Wiesbaden - Im Auftrag des Allgemeinen Lehrervereins im Regierungsbezirk Wiesbaden unter gütiger Mitwirkung von Fachmännern herausgegeben von Karl Jacobi, Wiesbaden 1913, Verlag Gebrüder Petmecky." Trotz intensiver Bemühungen war es uns nicht möglich, Verlag oder Verfasser bzw. deren Rechtsnachfolger ausfindig zu machen. Wir gehen aber davon aus, dass an diesem Artikel keine Urheberrechte mehr bestehen. Sollte dennoch jemand diese Rechte geltend machen können, so wird er gebeten, sich mit uns per E-Mail (siehe Kontaktseite) in Verbindung zu setzen. Danke. |