Benno Solbach
Die Entwicklung Kirchens
- dargestellt in der Geschichte seiner Ortsteile -

(aus: Heimatjahrbuch 1983 für den Landkreis Altenkirchen - Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Kreisheimatvereins)


(IV. Teil)
Nachdem in den letzten drei Heimat-Jahrbüchern (1980, '81 und '82) die Kirchener Ortsteile rechts der Sieg und an der Asdorfeinmündung in die Sieg vorgestellt wurden, ist es an der Zeit, die Geschichte des Ortskerns zu betrachten. Im Brockhaus Konversations-Lexikon, der „Vierzehnten vollständig überarbeiteten Auflage, der revidierten Jubiläumsausgabe“ des Verlagshauses „F.-A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien“ aus dem Jahre 1898 heißt es:

„Kirchen, Dorf und Luftkurort im Kreis Altenkirchen des preuß. Reg.-Bez. Koblenz, an der Sieg, der Linie Hagen-Siegen-Betzdorf und der Nebenlinie Kirchen-Freudenberg (13,6 km) der Preuß. Staatsbahnen, Sitz eines Amtsgerichts (Landgericht Neuwied) hat (1895) 1495 Einwohner, darunter 687 Evangelische, Postamt zweiter Klasse, Telegraph, Bürgermeisterei, ev. und kath. Kirche, Krankenhaus, Volksbank, Vorschußverein, Wasserleitung, elektrische Straßenbeleuchtung, Baumwoll- und Kunstwollspinnerei, Leder-, Lederriemen-, Lokomobilen- und Maschinenfabrik, Hochöfen, bedeutende Bleierzgrube, Blechwalzwerk, Dampf- und Wassermühle und Eisensteingruben.“

Das aber war nicht der Anfang Kirchens, hier handelt es sich vielmehr um eine Beschreibung des Ortes, nachdem dieser bereits eine Entwicklung von 600 - 700 Jahren hinter sich hat. Am Anfang Kirchens steht neben einigen Häusern (Gehöften oder „Räuchen“) zweifellos die Kirche, die dieser Ansiedlung ihren Namen gegeben hat. In den ältesten schriftlichen Erwähnungen unserer Heimat im allgemeinen und Kirchens im besonderen begegnen wir dem Bischofstuhl von Trier. Da ist zunächst jene Urkunde vom 28. 4. 1048, welche auf eine solche vom 24. 4. 913 zurückgeht (LHA Koblenz).


D/e Urkunde (aus dem LHA Koblenz) des Jahres 1560 zeigt die Verbindung des Philipp von Bicken mit der Pfarrei „Kirchfreusburg“; aber ebenso mit St. Lubentius in Dietkirchen und des Gerhard
von Betzdorf.

Sodann befindet sich im LHA Koblenz eine Ablaßprivileg für die Pfarrkirche Kirchen aus dem Jahre 1324, welches Erzbischof Balduin als zuständiger Diözesanbischof im darauffolgenden Jahr 1325 bestätigt (vgl. Heimat-Jahrbuch 1978, S. 197!).

Eine weitere Urkunde, welche nach der Pfarrchronik Kirchens nicht mehr vorhanden ist, jedoch abgedruckt in Braun, Geschichte der Reichsgrafschaft Sayn-Altenkirchen, Betzdorf 1888, S. 18, betrifft die zwischen 1200 und 1250 geschehene Dotierung der Pfarrei Kirchen durch das Siegerländer Adelsgeschlecht von Bicken, und zwar von dem Haincher Zweig, der „sein ganzes Hofgut zur Dotierung der Pfarrei gegeben“. Dafür behielt er sich das Besetzungsrecht und den Zehnten vor.

Was bedeutet „Dotierung“? Um dies recht verstehen zu können, müssen wir uns einen Augenblick mit dem „Eigenkirchenwesen“ des Frankenreiches beschäftigen. Das Wesen dieser Rechtsform, die wir auch als „Privatkirchenwesen“ bezeichnen können, liegt darin, daß der Grundherr in seinem Besitz- und Herrschaftsbereich eine Kirche errichten und diese mit einem Sondervermögen austatten konnte. Diese Kirche blieb nach damaliger Rechtsauffassung das uneingeschränkte, vererbliche und unveräußerliche Eigentum des Grundherren. Die mit dem Gebäude verbundenen kirchlichen Einkünfte und Gerechtsame flossen dem Eigenherrn zu. Ihm stand sogar die Bestellung des Geistlichen zu, den er gar aus dem Kreise seiner Hintersassen auswählen konnte.

Wenn also von einer „Dotierung“ der Kirche zu Kirchen durch das Adelsgeschlecht derer von Bicken die Rede ist, so handelt es sich darum, daß im Gebiet der Mutterpfarrei Haiger eine selbständige Pfarrkirche in Kirchen errichtet wurde. Nach der o. a. Urkunde soll die Familie von Bicken die erste Steinkirche in Kirchen erbaut haben, der eine Holzkirche als Filialkapelle von Haiger vorausgegangen sei. Diese geringen Spuren und die Namen einzelner Pfarrer sind die ältesten Erkenntnisse über die Kirche zu Kirchen. Die Stammburg derer „von Bicken“, eine Wasserburg, lag in Hainchen bei Irmgarteichen. Diese Familie von Bicken eben dotierte die Pfarrei mit ihrem „gleichsam in einem Kessel dahinter gelegenen Gut mit den Rechten der Jagd und der Fischerei darauf.

Daß die Kirche zu Freusburg, später „Kirch-Freusburg“, dann „zur Kirchen“ und endlich einfach „Kirchen“, auf ein beachtliches Alter zurückgeht, läßt sich aus dem Namen der Kirche ebenfalls ablesen. Seit altersher ist die Kirche zu Kirchen dem hl. Erzengel Michael geweiht. Solche Kirchen, die zumeist auf Bergeshöhen liegen, zählen zu den ältesten in deutschen Landen (vgl. Siegburg, Bamberg etc.). Auf Bergen und Anhöhen hatten einst die Germanen Wodan oder Thor verehrt. Die christlichen Missionare aber ließen an deren Stelle St. Michael oder St. Petrus treten. Seit dem Mainzer Konzil von 813 bezeichnet man St. Michael als Protector Germaniae = Beschützer Germaniens. Zahlreiche alte Bräuche sind mit dem Michaelstag, dem 29. September, verbunden, z. B. Messen, Erntedank und Almabtrieb.

Nach Auskunft des LHA Koblenz läßt sich die o. a. Urkunde über die Dotierung der Pfarrei Kirchen nicht ermitteln. Anläßlich eines Prozesses um die Kirche im 17. Jahrhundert zwischen der Familie v. Bicken und den Grafen von Sayn-Altenkirchen haben zwar beide Seiten nach einer entsprechenden Urkunde gesucht, jedoch nichts finden können. Nach de Lorenzi („Beiträge zur Geschichte sämtlicher Pfarreien der Diöcese Trier, Bd. 2, S. 548“) wurde die Kirche jedenfalls im 14. Jahrhundert dotiert, und im Jahre 1352 war das Patronatsrecht in der Hand der Familie v. Bicken (Abschrift in Bestand 30, Nr. 2640, III). Seit diesem Zeitpunkt läßt sich das Patronatsrecht der Familie v. Bicken durch zahlreiche Urkunden belegen.

Aus jener Zeit (nämlich aus dem Jahre 1377) wird auch Niederfischbach im Zusammenhang mit jener Familie von Bicken genannt. Aus diesem Jahre stammt ein Schreiben des Johann von Bicken an Graf Johann II, zu Sayn (1359 - 1408). Darin bittet Johann von Bicken, daß, für den Fall, daß sein Bruder Robin vor ihm sterben sollte, er mit dem Burglehen, so Friedrich von der Huben gehabt nämlich: den Hof zu dem Daile (Tal), den Hof zu Vispe (Fischbach), den Hof zu Moile (Mühle), alle im Lande Freusburg gelegenen und zwar auch als Burglehen für sein Lebtag belehnt werde (K. Ermert, handschriftl. Urkundenauszüge aus den Registerbänden des Kobl. Staatsarchiv über den Adel der Grafschaft Sayn/Altenkirchen und Sayn/Hachenburg in der Bibliothek der Oberschule Betzdorf, nach Dr. Hugo Löcherbach, 1941/42). Nach der gleichen Quelle meldet eine andere Urkunde, daß Johann von Bicken noch im gleichen Jahre mit dem „Hof zu Vispe“ und dem „zu Moile“ belehnt wurde.

Wenn wir nun aber zur Geschichte Kirchens zurückkehren, so können wir uns vorstellen, daß der Platz, wo heute die ev. Kirche steht, zur damaligen Zeit nur ganz wenig Häuser aufwies, die Kirche also beherrschend auf dem Bergrücken stand und weithin sichtbar das Siegtal überschaute. Man kann auch von Vermutungen lesen, „daß die Grafen von Freusburg bereits viel früher hier eine Kapelle erbaut haben, die inmitten der Begräbnisstätten stand; denn durch Grabungen ist bekannt, daß die Kirche früher von einem Gottesacker umgeben war. Dann wäre das Bickensche Hofgut wohl in der Nähe zu suchen. Leider konnten bisher darüber keine Klarheiten gewonnen werden, und es wäre sicher interessant, die Forschungen nach dieser Richtung weiter zu betreiben, wie sie Pfarrer Dr. A. Funk 1946 schon empfahl“ (Rhein-Zeitung v. 23. 2. 61). Außer der Familie v. Bicken wird noch „eine Familie Hönger“ unter denen genannt, welche die Kirche im 13. Jahrhundert dotiert haben sollen.
Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich der Name von „Kirche zu Freusburg“ über „Kirch-Freusburg“ und „zur Kirchen“ in Kirchen (vgl. Heimat-Jahrbuch 1978, S. 197 ff.).

So zeigt sich heute der Ortskern von Kirchen gesehen vom Dach des Schülerinnenwohnheims beim Kreiskrankenhaus Kirchen. Die Häuser überragen die beiden Gotteshäuser: links die katholische (neue) Kirche, rechts die evangelische (ältere) Kirche.

Das Kirchspiel Kirchen aber, dessen Pfarrkirche St. Michael zu Kirchen stand, war bedeutend größer als heute. Es gehörten zu diesem Kirchspiel die heute selbständigen Pfarreien Herdorf (rechts der Heller), bis es i. J. 1795 Vikarie und 1844 Pfarrei wurde; Betzdorf, das 1867 Pfarrvikarie und 1887 selbständige Pfarrei wurde; Brachbach wurde 1871 Vikarie und 1887 Pfarrei; schließlich Mudersbach, bis es i. J. 1847 Pfarrei wurde. Für sie alle - nebst Freusburg, Katzenbach, Herkersdorf, Offhausen, Dermbach und Wehbach - war die St. Michaels-Kirche zu Kirchen, welche zwischen 1200 und 1250 erbaut worden war, die Pfarrkirche.

Sie war dreischiffig. Im Jahre 1749 wird sie als „sehr alt, winkelhaft und finster“ bezeichnet. Als das Langhaus in späteren Jahren durch Blitzschlag beschädigt wurde, riß man die Kirche ganz ab und erbaute 1770 - 1772 eine neue, die heutige evangelische Kirche, welche beiden Religionsgemeinschaften - den Katholiken und Protestanten - von 1652 bis 1889 als Simultankirche gemeinsam diente. Nach Aufhebung des Simultaneums erbauten die Katholiken eine neue, die heutige St. Michaels-Kirche unmittelbar unterhalb der alten. Die ev. Gemeinde aber renovierte und verschönerte ihre Martin-Luther-Kirche in den folgenden Jahren.

Es ist verständlich, daß der alte Ortskern von Kirchen um die alte Kirche entstanden war. Kirche und Kirchhof waren umgeben von schmucken Fachwerkhäusern und den dazugehörigen Scheunen und Nebengebäuden. Da diese Gebäude sehr dicht beisammenstanden und zum Teil mit Stroh gedeckt waren, war die Feuersgefahr allzeit sehr groß und gefürchtet.

Im Juli des Jahres 1767 traf ein Blitz das Gotteshaus und zerstörte das Kirchenschiff. 40 Jahre zuvor aber, „den 19. May 1727 entstund zu Mittag ein Brand in Kirchen in Anton Benners Wittib Hause zwischen Pfeiffer und Lorenz Benners Hause, da 7 Häuser, diese drei, Schöff Mayers, Herrn Schöff Capitos, Peter Crämers Wittib, Martin Benners, 10 Scheunen und Gebäude. In Schöff Mayers Hause aber fielen über dem Löschen sechs Personen ins Feuer, 2 blieben sofort, Germanus Speler alt 15, und Meister Michel, ein Zimmermann, 3 sturben darnach, gleich tod, denen ich (Pfarrer Ungewitter) die parcentationes (Leichenrede) gehalten, weyl sie beyde lutherisch waren, nemlich Speler der Unterschultigen Sohn zum Gründel, und Meister Michel, und Meister Georg Heun aus dem Schwarzenburgischen, ein Mäurer“ (Totenregister der ev. Gemeinde Kirchen).

L. W. Cramer, Oberbergrat am Bergamt Kirchen, berichtet in seiner „Vollständigen Beschreibung des Berg-, Hütten- und Hammerwesens” aus dem Jahre 1805, daß „das Dorf Kirchen übrigens in allem nur 42, aber meistens schöne Häuser hat”. Und in „Das Siegthal, Ein Führer von der Quelle bis zur Mündung des Flusses und durch seine Seitenthäler“, von E. Weyden, Leipzig, aus dem Jahre 1865 heißt es auf S. 274: „. . . und plötzlich lacht uns von seinem Abhange das malerisch gelegene Kirchen mit seiner einfachen Kirche, seinen freundlichen, wohnlichen in Baumgruppen zerstreuten Häusern entgegen. Der über 650 Einwohner zählende Ort, größtenteils katholisch, seine heitere Umgebung, die Bestellung seiner Aecker und Wiesen, verkündet Wohlhäbigkeit, Wohlstand, Reichtum. Hier blüht Bergbau, Hüttenbetrieb und Fabrikwesen . . .“

Ein Zeugnis einstiger „Wohlhäbigkeit, Wohlstandes und Reichtums“ sind noch einige Häuser Alt-Kirchens in unmittelbarer Nähe der alten Kirche in der Hauptstraße, so die Stein'schen Häuser und das Haus Mosblech. Das letztgenannte schmucke Fachwerkhaus steht seit etwa 300 Jahren gegenüber der Kirche. Jeder Balken und jeder Stein könnte erzählen aus Kirchens längst vergangenen Tagen. Um 1670 ist dieses Haus errichtet worden und war bereits damals eine „Zierde des Ortes“. Ursprünglich war das Haus als Bauernhaus gebaut worden, diente jedoch von Anfang an auch als Schule mit Lehrerwohnung. Es war jene Zeit, da die „Dorfschulmeister“ noch Landwirte waren, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Beim Kellerumbau wurde vor einigen Jahren noch ein alter „Pötz“ (Brunnen zur hauseigenen Wasserversorgung) gefunden. Vor dem Hause aber soll sich der uralte Gemeindebrunnen (mit Pumpe) befunden haben, wie er noch heute 100 Meter oberhalb neben dem Hause Utsch an der Einmündung der Brunnenstraße in die Hauptstraße steht.

Einige der alten Häuser um die Kirche herum sind bereits verschwunden. Der Abbruch anderer wird noch folgen im Zusammenhang mit der geplanten Verbreiterung der Kreisstraße 101 bzw. der Ortskernsanierung. Dort wo die Schulstraße von der Hauptstraße abzweigt, war die Hauptstraße einst gerade breit genug, um ein Fuhrwerk durchzulassen. Die ehemalige „Kaserne” und das Haus Schneider wurden in den fünfziger Jahren abgerissen.

Das ehemalige Stein'sche Haus oberhalb der Dorfschänke, ein Mehrfamilienhaus, aus Bruchsteinen und Fachwerk in der Blütezeit Kirchens errichtet, wurde ebenfalls in den letzten Jahren von einem Räumbagger in Trümmer gelegt und dann binnen weniger Tage restlos wegtransportiert.

Eine der ältesten noch erhaltenen Darstellungen Kirchens dürfte eine 1829 von W. Stein vom Jungenthal gefertigte Skizze sein, die später als Lithographie erschienen ist. Dann erschien um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der erste Reiseführer für das Siegtal, verfaßt von August Horn. Dieser enthält einen Stahlstich nach einer Skizze, die der Bonner Universitätslehrer Christian Hohl vor 120 Jahren vom Riegel aus gezeichnet hat. Eben dieses eindrucksvolle Bild läßt erkennen, daß Kirchen damals nur das heutige Mittel- und Oberdorf auf dem Bergrücken, den die Sieg umfließt, umfaßte. Im Mittelpunkt aber stand damals die Simultankirche für beide Konfessionen, heute die evangelische Kirche, die dem Ort einst seinen Namen gab.

Nachdem in den Jahren 1888/89 das Simultaneum aufgelöst wurde und in Kirchen eine zweite Kirche, die heutige katholische Kirche, gebaut wurde, verdient der Ort seinen Namen in zweifacher Hinsicht. Bereits im Jahre 1809 war ein neuer Kirchspielfriedhof unterhalb der alten Kirche entstanden, der heutige Kirchhof um das katholische Gotteshaus. Die Silhouette Kirchens aber wird geprägt und überschattet von den beiden Gotteshäusern, den Kirchen von Kirchen.

(VII. Teil und Ende)

aus: Heimatjahrbuch 1984 für den Landkreis Altenkirchen - Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Kreisheimatvereins)

Im VI. Jahrgang der „Westdeutschen Blätter, Düsseldorf vom Juni 1930 heißt es u. a.: „... Kirchen, die an Fläche zweitgrößte Bürgermeisterei (im Kreis Altenkirchen). Der 195 m hoch liegende Ort Kirchen wird gleichfalls schon um 913 erwähnt. Zur Karolinger Zeit gehörte es zum Haiger-Gau. Nach dem Zerfall der Gauverfassung kam es (Kirchen) unter die Herrschaft der benachbarten Grafen von Freusburg, später gehörte es zur Saynischen Herrschaft. Aber immer wieder wurde es der Kampfplatz streitsüchtiger Fürsten. - Erst als Kirchen im Jahre 1815 nach wechselvollem Schicksal an Preußen kam, begann ein stetiges wirtschaftliches Aufblühen. Reiche Industrie siedelte sich an, so daß man vor dem Kriege scherzhaft davon sprach, daß in Kirchen die meisten Millionäre wohnten... Der von der Talsohle des Siegtals bis auf die umliegenden Waldhöhen sich herauf erstreckende Ort zeigt ein überaus freundliches und malerisches Bild. Spazierwege leiten unmittelbar über zu herrlichen waldigen Höhenwegen nach allen Seiten ...“

In der Tat lag das „alte Kirchen“ auf einem herrlichen Bergrücken, welcher sich vom Siegtal (195 m NN am Bahnhof Kirchen) bis hinauf zum Galgenberg (354 m) oder zum Kahlberg (406 m) erstreckte. Insgesamt zeigt also der Ort einen Höhenunterschied von 159 m bzw. 211 m. Während dieser Bergrücken nach Westen und Südwesten verhältnismäßig steil abfällt, ist die Böschung nach Norden und Nordosten hin sanfter. Daher auch erklärt es sich, daß lediglich zwei kleine Bäche im Oberdorf ihr Quellgebiet haben und das dort gesammelte Wasser zur Sieg hin führen: der Klotzbach und der Girnsbach.

Foto: Robert Kalleicher
Belegschaft der Gärtnerei und Baumschule C. Lohse, Mitte der zwanziger Jahre

Die längste Straße in Kirchen ist der Baumschulweg. Bereits um die Jahrhundertwende war Kirchen an der Sieg in den Kreisen des deutschen Gartenbaues kein unbekannter Ort. Im Jahre 1885 gründete hier der Ende Januar 1929 verstorbene C. Lohse sen. eine Gärtnerei und anschließend daran einige Jahre später eine Baumschule. Aus kleinsten und bescheidensten Anfängen entwickelte sich das Unternehmen zu einer Familien-GmbH mit 2.000 qm Gewächshäusern und Frühbeeten und 120 preußischen Morgen Baumschulbeständen. Durch ihre Höhenlage und den geeigneten Boden, bestehend aus einer Mischung von Lehm und verwittertem Grauwackenschiefer, lieferten die Baumschulen ein Pflanzenmaterial, welches für das Rheinische Schiefergebirge ein ausgezeichnetes Gedeihen bot.

Vom Baumschulweg führt die Wiesenstraße hinüber zum „Inken“. Inken (oder Önken) ist eine mundartliche Bezeichnung für eine Winkelecke, z. B. Ecke in der Küche, wo das Holz liegt, oder ein Wiesenwinkel im Wald u. dgl. Hier handelt es sich um einen Häuserwinkel, welcher schon seit den ältesten Zeiten Kirchens besiedelt sein dürfte. Als im Jahre 1983 in der Wiesenstraße am Feuerwehrhaus die Kanalisation verlegt wurde, wurde hier ein Teil der vermutlich ältesten örtlichen Wasserleitung gefunden: ein fast zwei Meter langer Eichenbalken mit zentrierter Bohrung für den Durchlauf kam zum Vorschein. Fachleute schätzen, daß die Eichenbalken der Länge nach durchbohrt oder mit glühenden Eisenstäben ausgebrannt wurden. Obwohl die Zuführung von Wasser durch ausgehöhlte Baumstämme etwas primitiv erscheint, konnte man sich auf die Holzrohre doch verlassen. Durch die Feuchtigkeit quoll das Holz auf und die Leitungen waren dicht.

Während auf der einen Seite die Wohnhäuser standen, lagen die Scheunen und Ställe diesen gegenüber und bildeten so am Klotzbach einen schützenden Winkel, „den Inken“. Winkel oder Ecken sind aber in der heutigen Zeit oft zu eng, vor allem für den modernen Verkehr. Deshalb muß auch die Kirchener Feuerwehr aus diesem engen „Inken“ heraus. Ein neues Feuerwehr-Gerätehaus soll errichtet werden mit besserer verkehrstechnischer Anbindung, mit besserer Infrastruktur.

Unweit von dem „Inken“ steht die alte „Heringsburg“-Schule. Welch seltsamer Name für einen der sieben Hügel Kirchens: „Heringsburg“! Schon oft ist die Frage nach der Herkunft dieses eigenartiges Namens gestellt worden. Von allen Deutungsversuchen scheint mir die des verstorbenen Kirchener Chronisten H. Schneider am einleuchtendsten. H. Schneider berichtete von einigen Familien, welche als erste dort oben „Im Wirtsgarten“ siedelten und ihr bescheidenes Eigenheim errichteten. Nach englischem Vorbild - „My home is my castle“ - waren sie sehr stolz auf ihr Haus, ihr Schloß, ihre Burg, welches sie mit großen Mühen und viel Fleiß und Entbehrung errichtet hatten. Da das eigene Ersparte nicht ausreichte zum Hausbau, mußten sie eine Hypothek aufnehmen und diese hoch verzinsen. Daher mußte gespart werden, z. B. was die Nahrung und Kleidung anging. Nicht jede Woche kam Fleisch auf den Tisch oder allenfalls einmal am Sonntag. Ein billiges Essen armer Leute waren in dieser „guten, alten“ Zeit Salzheringe als Fleischersatz. So wie in unserer Zeit hier und da die Neubaugebiete am Stadtrand als „Hypothekenhügel“ bezeichnet werden, so gab es eben in Kirchen „die Heringsburg“.

Während die ganz alten Schulen Kirchens in der Nähe der Kirche - und später der beiden Kirchen - lagen, baute die Gemeinde im Jahre 1911 die katholische Schule „auf der Herings-burg“. Hier oben bestand die Möglichkeit der Ortsausdehnung, hier oben bauten und wohnten junge Familien mit Kindern, daher war es sinnvoll, die Schule dorthin zu bauen.

Eine Zier der „Heringsburg“ ist der „Buschhof“. Diese schmucke Villa wurde kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges bis in den Krieg hinein von Helene Busch erbaut. Frau Busch war die Tochter des Kirchener Arztes Dr. Heinrich Prigge. Mit ihr lebten im „Buschhof“ ihre Gesellschafterin, Else Meißner, und eine Gärtnerin, Ehrentraud von Stetten. Vom „Buschhof“ bietet sich ein wunderbarer Ausblick auf die Au, den Brühlhof, die Freusburg und den Grindel, ja, bis hinüber nach Wingendorf.

Repro: H. Stoessel
Im Vordergrund Kirchens „Inken“, dahinter die ehemalige „Heringsburg“-Schule

Wer nun von der „Heringsburg“ hinübergeht zum „Hartkopf“, überquert - auch wenn er dies heute kaum mehr bemerkt - das Girnsbachtal. Der Girnsbach hat seine Quelle im „Vogelsang“ und floß früher recht unregelmäßig der Sieg zu. Wegen seines starken Gefälles schwemmte er dabei vielen wertvollen Grund fort, bis im Jahre 1855 32 angehende Kulturbautechniker der Siegener Wiesenbauschule zum Abschluß ihrer Prüfungsarbeit im Girnsbachtal umfangreiche Meliorationen durchführten. Diese Arbeiten zu beiden Seiten des Girnsbaches schufen aus Wildwuchs eine moderne Wiesenanlage. Der von Hand geleistete enorme Arbeitsaufwand der Studenten, verbunden mit einer einzigartigen Planung, fand seine Krönung mit dem meisterhaft gelungenen Bau dieser Musteranlage. Der Girnsbach mußte zunächst reguliert und seine Ufer durch Weidengeflecht befestigt werden. Dann wurden die zum Teil mehrere hundert Meter langen Bewässerungsgräben mit dem „Wiesenbeil“ und einer Spezialschaufel in das hängige Gelände gegraben.

So mühevoll diese manuelle Tätigkeit „in der Girnsbach“ gewesen, so uneingeschränkt war damals auch die Anerkennung, und so begehrt erschien den hiesigen Landwirten gerade dieser üppige Wiesengrund. Als in den ersten Junitagen des Jahres 1865 Prof. Dünkelberg von der Landwirtschaftlichen Akademie in Bonn-Poppelsdorf mit seinen Studenten eine Exkursion nach Kirchen machte, befand sich in seiner Begleitung ein Journalist der „Landwirtschaftlichen Zeitung für Westfalen und Lippe“. Eben dieser faßte seine Eindrücke später in dieser Zeitung so zusammen: „Die Rieselwiesen zeigen sich freilich dem Wanderer am liebsten im Juni, ehe der Schnitter ihr reiches Vließ in Mahden gelegt hat, indessen bietet eine Besichtigung jetzt im kahlen Herbste den Vorteil, daß man das Gerippe und das Adernetz erkennt, ohne dessen künstlichen Bau der Schmuck des Mai nicht sein würde. Man kann jetzt sozusagen „die Anatomie des Wiesenbaues studieren. . .“

Lange Jahrzehnte hindurch diente der üppige Graswuchs im Girnsbachtal den Kleinbauern und Ziegenzüchtern im Kirchener Oberdorf als unentbehrliche Futtergrundlage, und zwar noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Girnsbachtal ist ein typisches Beispiel dafür, wie aus einer Naturlandschaft eine Kulturlandschaft wird. Wenn heute die damaligen Wiesenbauschüler, deren Einsatz sicherlich auch Geld gekostet hat, den derzeitigen Zustand ihrer geleisteten Meisterarbeit noch einmal sehen könnten, würden sie nicht wenig erstaunt sein. So hatte die Gemeinde doch „in der unteren Girnsbach“ eine seit Jahren völlig überlastete Kläranlage errichtet, und Spaziergänger wußten um die große Geruchsbelästigung in diesem Tal zu berichten. Hier ist im Jahre 1982 ein Regenüberlaufbecken mit einer vorgeschalteten Beruhigungsstrecke der Abwasserbeseitigung entstanden.

Weit reicht der Blick vom „Hartkopf“. Hier oben ist der Boden in der Tat hart und die Ackerkrume nicht allzu dick. Kein Wunder, daß die Gemeinde dort, wo der Wind recht scharf weht, einen Kommunalfriedhof anlegte. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war man darüber einig, daß der im Jahre 1809 eröffnete und mitten im Dorf gelegene Kirchspielsfriedhof in absehbarer Zeit nicht mehr ausreichen würde. Rechtzeitige Verhandlungen der behördlichen und kirchlichen Stellen ergaben die Bereitschaft einiger Grundbesitzer zur Hergabe ihrer Grundstücke „Auf dem Hartkopf“. Der Plan, nunmehr ein großräumiges Gelände für eine neue Begräbnisstätte herzurichten, konnte im vollen Umfang verwirklicht werden. Am 6. 4. 1918 wurde der Hartkopf-Friedhof evangelischerseits durch Superintendent Trommershausen eingesegnet. An eben diesem Tage bettete man Frau Elise Dreißig aus der Siegstraße (Schwelbel) dort zur letzten Ruhe. Erst nahezu 40 Jahre später, nämlich im Jahre 1954, anläßlich der Bestattung von Herrn Josef Husch, weihte Pfarrer Dr. Blasen von der katholischen Gemeinde den Gottesacker. Inzwischen ist der Hartkopf-Friedhof erweitert und eine pietätvolle Leichenhalle errichtet worden. Immer aber umgeben noch die „Kirchener Baumschulen“ diesen Friedhof; und jedes Jahr am Volkstrauertag versammeln sich die Kirchener Orstvereine „auf dem Hartkopf“, um der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken. Dies ist wohl der rechte Ort des Gedenkens, der Friedhof; denn wir hegen dort Gedanken des Friedens und nicht des Unheils.

Unmittelbar unterhalb des Friedhofs beginnt die Straße „Am Schwedengraben“ und führt hinüber „zur Schwedenschanze“. Beide Bezeichnungen erinnern an die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Die Freusburg, welche sich damals in kurtrierischem Besitze befand, sollte von den Schweden erobert werden. Gegenüber der Freusburg umfließt die Sieg eine schmale Landzunge, den „Queckhahn“, und daher legten die Truppen des Schwedenkönigs Gustav Adolf zwischen „Hartkopf“ und „Queckhahn“ eine Schanze an, um von hier aus die Freusburg zu belagern und sturmreif zu machen. Noch Vorjahren waren die Wälle und Erdbefestigungen der „Schwedenschanze“ sowie die Laufgräben und Grabhügel zu erkennen, von denen der Chronist berichtet: „. . . 22 Soldhaten dahier todts verblieben und elendig umkomen durch unversehens nächtlichen Ausfall von der Veste . . .“

Auch wird berichtet, daß im Jahre 1965 ein Bewohner der Freusburgermühle in unmittelbarer Nähe der „Schwedenschanze“ eine gegossene zweipfündige Kanonenkugel gefunden hat. Diese Kugel ist zweifellos aus den Festungsgeschützen geschossen worden, von denen eines noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus der alten Freusburger Bastion unter den Weiden stand. Die Schweden dagegen hatten von Frankfurt her kommend ihre besten Waffen mit, sie schossen schon mit „Zwölfpfündern“.

Viel leichter und weicher war jene Kugel, mit welcher die „Rölpeser“ in unserem Jahrhundert „auf dem Hartkopf“ schossen. Nach der Jahrhundertwende fand auch in Kirchen der Fußball seinen Eingang. Anfänglich in loser Vereinigung spielend, mußten sich die Jungen recht ärmlich durchschlagen. Ihre Fußballschuhe fischten sie aus der Sieg, und der Ball wurde zur Füllung, zum Aufblasen, von Mund zu Mund gereicht. Immer wieder aber jagten die Bauern auf dem Brühlhof, auf der Kircherhütte, oder „auf den großen Feldern“ die „Rölpeser“ von den abgemähten Wiesen. Dann aber gelang es schließlich doch, die „Borussia“ ins Vereinsregister eintragen zu lassen. Sie erwarb „auf dem Hartkopf“ ein Gelände und konnte im Jahre 1907 den soeben aus der Taufe gehobenen Siegener Ballspielklub zu einem Spiel auf dem in luftiger Höhe gelegenen neuen Fußballplatz einladen. Nun war der Bann gebrochen, und immer mehr aktive wie fördernde Mitglieder traten dem Verein bei. Niemand aber konnte damals ahnen, daß endlich im Jahre 1975 auf dem früheren „Borussia“-Gelände ein vorbildliches Spielfeld eingeweiht werden konnte. Die Faustballabteilung des VfL Kirchen hat den Fußballplatz inzwischen um einen Faustballplatz erweitert.

Foto: Vinzenz Krös

Das „Katzenbacher Eichelchen“ vor dem 2. Weltkrieg


Unweit des „Hartkopfes“ steht bis in unsere Tage das „Katzenbacher Eichelchen“. Dieser Baum spielte bereits eine wichtige Rolle, als die Gemarkungsgrenzen der einzelnen Gemeinden weder durch Vermessung noch durch das Setzen von Grenzsteinen festgelegt waren. Damals konnte der Besitzstand eines Dorfes nur in der Weise gesichert werden, daß die Grenzen von Zeit zu Zeit begangen und dabei von immer neuen Zeugen besichtigt wurden, die im Streitfall eidlich auszusagen hatten. Schon in spätgermanischer Zeit waren die sich gewöhnlich in sieben Jahren wiederholenden Grenzbegehungen üblich. Es schloß sich daran häufig ein dreitägiges Volksfest an, das oft Auswüchse übelster Art zeitigte und weder die Billigung der Dorfältesten noch die der Landesherrschaft fand.

Darüber wird u. a. berichtet: „... Es haben sich bei der diesjährigen Grentzbegehung den 12. Oct. 1804 der Gemeindeältesten des Kirchdorfes Kirchen, Herkersdorf, Offhausen und Catzenbach wiederum einige Streitigkeiten und Schlagereien böser Art abgespielt. Die zu Offhausen wollten auch diesmal die nach oben hin fortsetzende Linie des ald Grentzbaum von den Alten gesetzten sog. „Eichelchen“ als nichtig ansehen, haben gar den Hauberg hinauf gewollet und dorten ihr Eigenthum reclamiert. Es ist darob in der nachfolgenden Feierlichkeit in Catzenbach - wo man von jungen Offhauser Burschen hart bedränget - zu den Vorfällen kommen, die hiermit der Cantzley pflichtgemäß gemeldet werden. Die Gendarmerie zu Kirchen hat fünf junge Burschen aus beyden Dörfern gefänglich eingezogen, zwey sind der Arretierung entgangen. Es wurden einige eingreifende alte Männer blutig geschlagen. Joh. Heinr. Lixfeld, stellf. Schultheiß dahier, 14. Oct. d. Js. 1804 . . .“ Der Kassationshof zu Ehrenbreitstein setzte daraufhin die Grenze neu fest und bestimmte, „. . . das Catzenbacher Eichelchen ist als Grentzbaum nach dem Westen wie nach dem Offhausener Berge hin unbedingt zu respectieren . . .“

Damals stand das Katzenbacher Eichelchen mit seinem Kreuz noch einsam am Wege, heute liegt es an einer vielbefahrenen Straßenecke von zahlreichen Häusern umgeben. Es war in den 30iger Jahren, daß in Kirchen mit der Besiedlung des Oberdorfes begonnen wurde. Da war es zunächst die „Höfergartensiedlung“, welche - gefördert durch die Rheinische Wohnungsfürsorge - im Jahre 1930 begonnen wurde. Zum Bau wurden etwa 300 m3 Steine aus dem Steinbruch Quast gewonnen. Die Gemeinde gab Grundstücke von über 300 Ruten zum Kaufpreis von 16 Mark pro Rute ab. Das restliche Gelände konnte billig aus Privateigentum erworben werden. Der Name „Höfergarten“ reicht in die Zeit eines uralten Bauerngeschlechtes Höfer hinein, das bis zum Jahre 1797 hier ansässig war und dessen Ländereien durch Tod und Erbauseinandersetzung zerstückelt wurden. Die „Höfergarten Siedlung“ hat ihr damaliges Gefüge schon längst gesprengt. Beiderseits der Höfergartenstraße stehen heute aus- und umgebaute Häuser mit Gärten und Garagen.

Im Jahre 1935 baute dann die Lokomotivfabrik A. Jung, Jungenthal, welche 1985 ihr 100jähriges Bestehen hätte feiern können, eine Werkssiedlung in der Katzenbacher Straße. Durch den 2. Weltkrieg und die Nachkriegszeit wird die Bautätigkeit dann unterbrochen, bis im Mai des Jahres 1955 der Gemeinderat den Start für eine große Siedlung der „Landsiedlung GmbH, Koblenz“ am „Eichelchen“ freigibt. In den folgenden Jahren entsteht ein völlig neuer Ortsteil -Neu-Kirchen - auf den Kirchener Feldern. In der Katzenbacher Straße, im Baumschulweg und der Girnsbachstraße wachsen die Häuser nur so aus dem Boden heraus. In den 60er Jahren folgt der Bauboom in der Schützen-, der Martin-Luther- und der Albert-Schweitzer-Straße.

Kaum 100 Jahre zuvor wäre dies völlig undenkbar gewesen; denn am 30. Oktober des Jahres 1864 wurde den Landwirten in Kirchen eine uralte Gerechtsame erneut bestätigt. Hieß es doch damals, „... daß diese (die Bauern) auf der sogenannten Önner oberhalb des Kirchdorfes Wald, Weide und Hude ohne jegliche Kosten benutzen dürfen, daß an solchem Ort weder eine Bebauung noch weitere Rodung zu erfolgen habe“. - „Önner“ kommt von dem ebenfalls mundartlichen „Onnern“, welches den Nachmittag bezeichnet, etwa die Zeit von 15 Uhr ab. „Önner“ bedeutet also die Viehschläge, den Nachmittagsruheplatz und die Nachmittagsruhe der Kühe. Die Bezeichnung stammt also aus jener Zeit, da der Kuhhirte noch morgens durchs Dorf zog und sein Horn erschallen ließ. Waren die Tiere gegen Mittag satt geweidet, dann boten „die Önner“ mit ihrem Niederwald, den schattenspendenden einzelnen hohen Bäumen, mit den Wiesen und dem Teich darin (Quelle des Klotzbaches) ein ideales Ruhegelände zum „Nererröcken“ (Wiederkauen).

Heute befindet sich dort oben „unter dem Höferwald“ ein Kinderspielplatz mit Schaukel, Wippe und Kletterbaum, und vom Frühling bis in den Herbst hinein plätschert still der Brunnen. Außer den spielenden Kindern kommen häufig ältere Menschen des Weges, welche noch das Geheimnis kennen, daß der Born auch während wochenlanger Trockenzeit nicht versiegt. Er ist eben an einen alten Stollen angeschlossen, der zwar als Lieferant für die gemeindliche Wasserversorgung ausgedient hat, aber immer noch genügend Wasser für den Holzbrunnen liefern kann. Nicht weit entfernt befindet sich der Schießstand des Schützenvereins „Tell“ Kirchen-Wehbach. Die heutige Schießsportanlage, welche Mitte der 50er Jahre erbaut worden war, ist in den vergangenen Jahren großzügig erweitert und durch beachtliche Eigenleistungen des Vereins gemütlich ausgestattet worden.

Über dem „Höferwald“ aber thront das „Panorama-Hotel Druidenschlößchen“. Auf der „Sohle“ zwischen Kirchen und Herkersdorf, zwischen „Pracht“ und „Ottoturm“ hat der gebürtige Kirchener und Wanderer Otto Kasch das „Druidenschlößchen“ ursprünglich als Schutzhütte und Erfrischungshalle am Wanderweg Siegen-Betzdorf errichtet. Von hier oben konnte der Heimatfreund gleichzeitig den Druidenstein und die Freusburg erblicken. Hier oben hat Otto Kasch viele Jahre seine Gäste bewirtet und viele Jahre mehr seine Verse geschmiedet und in Hochdeutsch wie in moselfränkischer Mundart eine breite Leser- und Zuhörerschaft erfreut. Als Beispiel für viele soll hier aus O. Kaschs „Lugge looh“ sein Gedicht „Sieglandperle“ zitiert werden:

Sieglandperle
Noch einen Sommer will ich dort erleben,
wohin die Sehnsucht treibt mich mit Gewalt,
und wieder soll er große Freude geben,
wie einst bei meinem Aufenthalt.
Wohlgemut will ich dann wandern
zu deinen waldbedeckten Höh'n,
und singen will ich wie die vielen andern:
„O, Sieglandperle Kirchen, du bist schön?“

Noch einmal, Freusburg, werd ich dich dann schauen,
noch einmal dich besteigen, „Weißer Stein“,
den Windhahn such ich auf im Morgengrauen,
und lade dann mich dort zur Frührast ein.
Halt endlich Einkehr ich, nach langem Wandern,
zu Spiel und Tanz auf deinen Höh'n,
dann sing ich wie die vielen andern:
„O, Sieglandperle, Kirchen, du bist schön!“

Wenn dann zurückgekehrt ich bin zu meinen Lieben,
und neu gestärkt zu frischer froher Tat,
dann ist als höchster Lohn mir der geblieben,
daß ich jetzt eine zweite Heimat hab',
denn immer werd ich dorthin wandern,
wo frohe Menschen wohnen auf den Höh'n,
und singen werd ich mit den vielen andern:
„O, Sieglandperle, Kirchen, du bist schön!“

Wenn Kirchen und seine Ortschaften vom Panorama-Hotel aus herrlich zu überblicken waren, so gibt es darüberhinaus noch die Möglichkeit, sich einen weiteren Überblick zu verschaffen. Oberhalb des „Druidenschlößchens“ auf dem 405,9 Meter hohen Kahlenberg steht seit dem Jahre 1911 der Otto-Turm. Dieser 18 Meter hohe Aussichtsturm wurde damals von Kommer-zienrat Otto Stein, einem Menschen- und Heimatfreund aus einer alteingesessenen Kirchener Familie, dort aufgestellt. Ursprünglich sollte der stählerne Riese an einem anderen Platz aufgerichtet werden, so berichtet Otto Kasch, nämlich auf dem einen Kilometer entfernten „Weißen Stein“. Doch genau dort oben auf dem „Kahlen Kopf brach der Wagen unter der tonnenschweren Last zusammen, und daher wurde der Turm kurzerhand an derselben Stelle errichtet. Bei klarem Wetter kann man hinüberschauen bis zu den Sieben Bergen am Rhein; und im Juni 1979 führten die Funkamateure des Ortsverbandes Sieg-Hellertal einen internationalen „Field-Day“ auf dem Ottoturm durch, bei welchem Funkwellen hinüberreichten bis nach Minnesota (USA). Ein „kleiner Bruder“ des Ottoturms ist zu bewundern im Haus des Kriegsblinden Peter Molzberger in Aisdorf. In zwölfmonatiger Kleinarbeit hat Herr Molzberger den Turm im Kleinformat maßstabsgetreu nachgebaut.

Nachdem „Auf der Narr“ in unmittelbarer Nähe des Ottoturms in den letzten Jahren 65 neue Bauplätze besiedelt werden konnten, wird nunmehr am nordwestlichen Hang des Kahlenberges fleißig gebaut.

Während das Martinsfeuer in früheren Jahren auf dem „Kirmesfeld“ entfacht wurde, lodert es in den letzten Jahren „auf dem Rißfeld“. Noch ist dies möglich, weil nach der Erschließung nicht

Foto: H. Stoessel (1982)
Der Ottoturm auf dem Kahlenberg. Von hier oben haben selbst jene einen weiten Überblick, die ihn sonst oft vermissen lassen.


alle 87 Wohnhäuser bereits errichtet sind. Von den insgesamt neun Hektar Feld- und Haubergsland oberhalb der Katzenbacher Straße ist aber inzwischen der größte Teil bebaut worden.

Hier oben, am Ortsrand von Kirchen, zwischen Kirchen und Katzenbach, hat sich vor 20 Jahren (1964) die Firma Walter Hebel etabliert. Walter Hebel, welcher im Juni 1982 verstarb, hat im Jahre 1932 in Kirchen die Walter Hebel KG gegründet. Sein unermüdliches Schaffen brachte als wichtigste Produkte Zeichenplatten, Zeichenanlagen, Schreib- und Zeichentabuletten und zahlreiche verwandte Produkte auf den einschlägigen Markt. So wie einst die Lokomotiven aus Jungenthal, so haben später Hebels Zeichenbedarfsprodukte den Namen Kirchens in alle Welt getragen. Heute führt der Sohn Ulrich Hebel in Zusammenarbeit mit der Firma Rotring-Werke KG den Betrieb weiter.

Wenn in sieben Folgen versucht wurde, die Entwicklung Kirchens darzustellen in der Geschichte seiner Ortsteile, so ist dies unvollkommen und bruchstückhaft geschehen. Vieles bleibt noch zu sagen und zu ergänzen. Wenn es gelungen ist, die eine oder andere Begebenheit der Vergessenheit zu entreißen, sie zu erhellen und zu klären, dann ist viel erreicht. Alle aber, welche Kirchen, der „Perle an der Sieg“, in Liebe und Treue verbunden sind, bleiben aufgerufen, mitzuhelfen, daß Kirchen bleibt ...


Eine Perle licht und helle,
nicht gewaltig, nicht gigantisch,
doch idyllisch, doch romantisch,
und voll Armut und voll Reiz!

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